«Man muss auch den Mut haben, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen»
Er kam als Vikar im Jahr 1991 nach Chile. Seitdem hat er verschiedene evangelische Gemeinden in Südchile betreut. Keine einfache Aufgabe, wo doch – nicht nur bei uns, sondern weltweit – die Zahl der Kirchgänger zurückgeht.
Im April 2013 trat er seine heutige Stellung als Seelsorger der evangelischen Gemeinde in Puerto Montt an. Der Posten war längere Zeit vakant gewesen, sodass die Gemeinde schon einmal kurz vor der Schließung stand. Es war daher sozusagen ein Neuanfang, obwohl man eigentlich ständig neu anfangen muss, wie Pfarrer Handstein sagt. Allerdings fand er «einen Stamm von Leuten vor, die regelmäßig den Gottesdienst besuchten» und zudem dem neuen Geistlichen «sehr aufgeschlossen entgegenkamen und die Gemeindearbeit kräftig unterstützten», wie etwa die Damen der «Frauenhilfe» und der Kirchenvorstand. Auch Pfarrer Detlev von der Pahlen, der direkt vor ihm für ein halbes Jahr in der Gemeinde tätig war, hatte wertvolle Vorarbeit geleistet.
Es mussten zunächst die Bibelstunde sowie Schul- und Konfirmandenunterricht wieder aufgenommen werden. Zusätzlich begann er mit den Konfirmanden Familiengottesdienste, womit sich die Anzahl der Kirchgänger zwar etwas vergrößerte, indes längst nicht in dem von ihm erwarteten Umfang. Woran liegt es, dass es heute so schwierig ist, Kirchen zu füllen? «Das ist schwer zu sagen», antwortet Pfarrer Handstein auf diese Frage. «Einmal gibt es weltweit den Rückzug von den Kirchen – in Deutschland ist das noch sehr viel schlimmer. Durch das Vordringen von Ideologien – ich denke dabei an die Gender-Ideologie – oder an die Folgen der 1968er Revolution, ist dem Menschen immer weniger bewusst, dass er durch Gott und aus Gott lebt. In dieser allgemeinen Säkularisierung strebt der Mensch nach Autonomie von allem, besonders von Gott. Er will sich nicht in sein Leben hereinreden lassen, sondern sich selbst verwirklichen.»
Außerdem hängt es mit der Tradition zusammen, glaubt Pfarrer Handstein: «Der Charakter einer Gemeinde bildet sich mit ihrer Entstehung. Es hat früher neben dem Wunsch nach seelsorgerlicher Betreuung auch eine Rolle gespielt, dass die Kirche als eine kulturelle Einrichtung begriffen wurde.»
Wie kann eine Glaubensgemeinschaft der Flucht ihrer Mitglieder entgegentreten? Worauf es wirklich ankomme ist, dass die Kirche «sich viel mehr auf ihre ureigentlichen Aufgaben besinnen muss: biblische Verkündigung, Seelsorge und Sakramentsverwaltung. Und vor allem ist es wichtig, dass die Predigt dem Evangelium entspricht. Da das häufig nicht der Fall ist, haben sich viele Menschen von der Kirche abgewandt und weil sie zu sehr politisiert, sich zum Beispiel zu sehr mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen befasst.»
Er denkt dabei auch an die Vorgänge im Jahr 1975, «als die Beschäftigung mit politischen Fragestellungen überhandgenommen hatte, was letztlich 1975 zur Spaltung unserer Kirche in Ilch und Ielch geführt hat. Wir müssen biblisch-evangelisch predigen, aber auch unerschrocken und der Schrift gemäß». Dabei sollte die Kirche «ihre Hände in die Wunden der Zeit legen, auch in die der Kirche, vor allem dann, wenn das christliche Welt- und Menschenbild infrage gestellt wird». Handstein bemängelt vor allem in Europa die fehlende kritische Distanz der Kirchen zum Islam und der Gender-Ideologie: «Man muss auch den Mut haben, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Die Kirche darf sich nicht mit dem Zeitgeist vermählen, wie Kierkegaard zutreffend festgestellt hat.» Zusammenfassend meint er: «Natürlich ist es richtig und dringend notwendig, die Kirche für die Jugend attraktiv zu machen, aber dabei sollten nicht alle Traditionen über den Haufen geworfen werden. Wir dürfen nicht vergessen: Die Kirche besteht aus mehreren Generationen.»
Andreas Handstein ist in Treysa (Nordhessen) geboren. In Marburg, Heidelberg und Gießen studierte er evangelische Theologie, und war beziehungsweise ist in einer christlichen Studentenverbindung aktiv. Nach dem Examen absolvierte er zwei Praktika in Deutschland und Südafrika. Dann bewarb er sich um eine Vikariatsstelle in Chile. Ende 1991 kam er nach Osorno, wo er sein Vikariat absolvierte. 1993 erfolgte die Ordination. Zwölf Jahre war er in Osorno tätig, danach folgte ein zehnjähriger Dienst in Temuco.
In der Zukunft erwartet der Pastor, dass immer mehr Gottesdienste auf Spanisch und immer weniger deutschsprachige stattfinden werden. «Ich finde aber, dass das Deutsche nicht unter den Tisch fallen darf. Man könnte es missionarisch einsetzen. Wenn zum Beispiel Kinder in der Schule Deutsch lernen müssen, dann wäre es doch gut, wenn dazu auch Texte der Bibel auf Deutsch herangezogen und auch weiterhin deutsche Predigten gehalten werden würden.»
In seiner Freizeit sieht der Pfarrer gerne alte deutsche Filme und hört deutsche Musik, besonders von Wagner, Weber und Verdi. Auch liest er Werke von Ludwig Ganghofer, Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller oder Leon Uris, aber auch immer wieder die von Mark Twain, wie die Romane «Tom Sawyer» und «Huckleberry Finn» und andere. Dazu meint er: «Das sind keineswegs nur Jugendbücher. Man entdeckt in ihnen jedes Mal neue Aspekte, die zeitgeschichtlich sehr interessant sein können wie die Haltung zur Sklaverei in den Südstaaten Amerikas.»
Ansonsten ist Pastor Andreas Handstein ein begeisterter Bergsteiger, obwohl er dafür gegenwärtig keine Zeit hat: «Das heb’ ich mir vielleicht für die Pensionierung auf, wenn es dann körperlich noch möglich sein sollte.»