Musikdiener von seltenem Format
Claudio Arrau im Jahr 1974 Claudio Arrau als Kind (undatiert) Gedenktafel am Haus Stübbenstraße 8 in Berlin-Schöneberg, wo Arrau von 1930 bis 1937 lebte Das 2009 eröffnete Museo Interactivo Claudio Arrau León in Chillán Arraus Grab in Chillán
Seine Pianistenlaufbahn war eine der längsten in der Musikgeschichte. Mit drei Jahren setzte er sich zum ersten Mal ans Klavier, das ihn bis zu seinem Tod im 88. Lebensjahr begleiten sollte. In diesem Zeitraum hielt er sich beharrlich an seinen Leitgedanken: lernen, lernen, abermals lernen und unentwegt bescheiden sein.
Es heißt, Claudio Arrauhabe als Pianist das Erbe Ludwig van Beethovens direkt übermittelt bekommen. Der Chilene lernte nämlich in Berlin bei Martin Krause. Krause war einer der letzten Schüler von Franz Liszt, Liszt wurde von Carl Czerny unterrichtet und Czerny studierte bei Ludwig van Beethoven. Es mag übertrieben klingen, dass ein Künstler über vier Generationen hinweg zum Nachfolger einer Größe wie Beethoven erklärt wird, aber Tatsache ist, dass Arrau mit den Jahren zu einem der tiefsinnigsten Interpreten – übrigens nicht nur von Beethovens Klavierwerk – des 20. Jahrhunderts wurde.
Claudio war kaum drei Jahre alt, als er begann, sich regelmäßig mit dem Klavierspiel zu beschäftigen. Er lernte Noten lesen, bevor er mit dem Alphabet umgehen konnte. Ab dem vierten Lebensjahr studierte er Beethovensonaten. Seine jung verwitwete Mutter, eine Klavierlehrerin, erkannte die Begabung des Jungen und unterrichtete ihn. Mit fünf gab er in seinem Geburtsort Chillán sein erstes öffentliches Konzert. Die außergewöhnliche Begabung des Knaben sprach sich bald herum, sodass er mit sechs Jahren im Palast La Moneda vor Staatspräsident Pedro Montt und einigen Abgeordneten seine Kunst zeigen konnte. Das Konzert hatte zur Folge, dass die Regierung ihm ein Stipendium gewährte, um sich in Deutschland weiterbilden zu lassen.
Arraus Lebenslauf liest sich wie eine Aufzählung von Superlativen: Mit 17 gab er sein erstes Konzert mit den Berliner Philharmonikern, mit 20 brach er zu einer Amerika-Tournee auf, mit 22 wurde er im Stern‘schen Konservatorium zum Professor ernannt. Claudio Arrau hatte eine der längsten Schallplatten-Laufbahnen – wenn man das so nennen kann – der Tonträgergeschichte. Seine erste Aufnahme spielte er während der Schellackplattenzeit ein, als die schwarzen Scheiben mit 78 Umdrehungen pro Minute über die Grammophone kreisten.
Von 1935 bis 1937 führte er das gesamte, riesenhafte Repertoire für Tasteninstrumente von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert auf. Als am 17. August 1982 die ersten Compact Discs auf den Markt kamen, war eine davon Arraus Aufzeichnung von Frédéric-Chopin-Walzern. Die anderen beiden waren «The Visitors» der Gruppe ABBA und Richard Strauss‘ Alpensinfonie, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan. Der chilenische Pianist betrat zum letzten Mal ein Aufnahmestudio drei Monate vor seinem Tod, im März 1991. Bei der Gelegenheit spielte er vier der sechs Partiten von Johann Sebastian Bach ein.
Claudio Arrau war ein belesener, hochgebildeter Mann, dessen Interessen sich nicht auf die Musik beschränkten. Während seiner letzten Chile-Tournee im Jahr 1984 etwa besuchte er das Museo Precolombino in Santiago, wobei er die anwesenden Experten mit seiner Sachkenntnis überraschte.
Seine Interpretationen beruhten stets auf umfassenden Kenntnissen der Werke, die nicht nur auf ein eingehendes Studium der Partituren zurückzuführen waren. Er besorgte sich sämtliche verfügbaren Informationen zu den Stücken und setzte sich mit ihnen gründlich auseinander, bevor er mit seinen Deutungen an die Öffentlichkeit trat.
Im Privatleben war er bescheiden und vermittelte oft den Eindruck eines scheuen Menschen. Wenn er sich außerberuflich mit Musik beschäftigte, widmete er sich durchaus nicht nur den Klavier- oder den Kammermusikkompositionen. Er ging zum Beispiel gerne in die Oper. In einem Interview erzählte er einmal, dass ihm die beeindruckendsten Erlebnisse im Musiktheater Maria Callas und Dietrich Fischer-Dieskau beschert hätten.
Claudio Arrau starb vor genau 30 Jahren, am 9. Juni 1991 in Mürzzuschlag (Österreich). Er hatte für den 11. Juni einen Auftritt zur Einweihung des dortigen Johannes-Brahms-Museums geplant. Für den 14. Juni war ein Soloabend Arraus in Düsseldorf vorgesehen, bei dem der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau ihm die Goldmedaille der britischen Royal Philharmonic Society überreichen sollte.
Der Verstorbene wurde alsbald nach Chile überführt. Vor dem Teatro Municipal in Santiago ehrte man ihn mit dem Gefangenenchor aus «Nabucco» von Giuseppe Verdi. Während der Aufbahrung in der Kathedrale schritten tausende von Chilenen an seinem Sarg vorbei. Die Beerdigung fand auf dem Friedhof von Chillán statt, wo Arrau in unmittelbarer Nachbarschaft des anderen großen chilenischen Musikers ruht, des Sängers Ramón Vinay.