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Chiles neue Verfassung (Teil 10)

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Eine neue Staatsform für mehr Dezentralisierung

Eine Demonstration für mehr Dezentralisierung in Chile im Jahr 2015

Die Organisation und Struktur des Staates ist einer der enscheidenden Aspekte jeder Verfassung. Eine neue Verfassung für Chile bietet die Chance, die Dezentralisierung zu stärken.

Unitarismus und Föderalismus

Der Zentralstaat ist ein Staat mit einem politischen Zentrum. Dieses System besteht aus einer «vierfachen Einheit« von

  • (1) einem einheitlichen Rechtssystem für das ganze Land und die gesamte Bevölkerung
  • (2) einer Exekutive, Legislative und Judikative für das ganze Land
  • (3) der gesamten Bevölkerung, die sich einem Rechtssystem und politischen Entscheidungen unterwirft und
  • (4) einem Territorium.

Einheitsstaaten sind in Lateinamerika die Regel

Ein Bundesstaat besteht seinerseits aus Gebietseinheiten, die mit politischer Autonomie ausgestattet sind. Es gibt eine doppelte Exekutiv-, Gesetzgebungs- und Justizstruktur. Das heißt eine zentrale Exekutiv-, Gesetzgebungs- und Justizstruktur, die für das ganze Land zuständig ist, und eine zweite, die nur für die politischen Teileinheiten (Staaten, Provinzen oder Länder) zuständig ist, aus denen der Bund besteht.

Eine Bundesverfassung verteilt die Zuständigkeiten, die jeder Struktur entsprechen. In einem föderalen System gibt es eine Vielzahl von Verfassungen und Gesetzgebungen. In Lateinamerika sind nur Argentinien, Brasilien, Mexiko und Venezuela föderalistisch strukturiert.

Eine neuere Staatsform ist der Regionalstaat. Diese Staatsform steht im Spannungsverhältnis zwischen Föderalismus und Zentralismus: Die Regionen haben mehr Selbstverwaltung, ohne jedoch die Autonomie der Mitgliedsstaaten eines Bundes zu erreichen. Der Regionalstaat versucht die Idee von Einheit und Dezentralisierung oder Autonomie in Einklang zu bringen. Beim Regionalisierungsprozess in Chile wurden bisher eher bescheidene Erfolge erzielt, sodass man nicht von einem Regionalstaat sprechen kann.

Einheitliche und zentralisierte Tradition

In Chile gab es nach dem Unabhängigkeitskrieg vor allem bei dem Thema der Staatsform große Uneinigkeit. Nach dem gescheiterten «Bundesprozess« von 1826 wurde ein Einheitsstaat geschaffen. Die liberale Verfassung von 1828 bedeutete ein gewisses Maß an Autonomie und Dezentralisierung, da die Regierung und die Verwaltung der Provinzen bei den Provinzversammlungen und «Intendentes» lagen. Letztere wurden vom Präsidenten auf Vorschlag einer Dreierliste der Provinzversammlung ernannt.

Seit der Verfassung von 1833 konzentriert sich die Macht im Zentralstaat. In den Verfassungen von 1833 und 1925 wurde der «Intendente», der die Provinzen regierte, vom Präsidenten ernannt.

Fortschritte bei der Dezentralisierung

Derzeit sieht die Verfassung in Artikel 3 vor, dass Chile ein Einheitsstaat ist. Darin steht auch, dass die Verwaltung des Staates sowohl «descentralizada» als auch «desconcentrada» sein soll. Außerdem legt dieser Artikel fest, dass die staatlichen Stellen die Regionalisierung des Landes verbessern und eine gerechte Entwicklung der Regionen, Provinzen und Gemeinden fördern müssen.

Während ein Einheitsstaat per Definition politisch zentralisiert ist, kann eine effiziente Verwaltung nicht zentralisiert werden. Aus diesem Grund sind im administrativen Bereich die Mechanismen der «desconcentración» und Dezentralisierung integriert. «Desconcentración» besteht in der Übertragung von Zuständigkeiten auf eine Verwaltungsbehörde, die hierarchisch von der Zentralregierung abhängig ist. Die Dezentralisierung geht darüber hinaus, da sie Befugnisse an juristische Personen mit eigenem Vermögen überträgt, deren Behörden hierarchisch unabhängig von der Zentralregierung sind.

Obwohl laut der Verfassung von 1980 Dezentralisierung die allgemeine Regel sein sollte, gab es in der Praxis in den ersten Jahrzehnten ihrer Gültigkeit keine «Desconcentración» auf regionaler und provinzieller Ebene. Nur auf kommunaler Ebene konnten Fortschritte bei der Dezentralisierung vorgewiesen werden. 

Zwei Gesetze waren der Schlüssel zu einer stärkeren Dezentralisierung und Autonomie der Kommunalverwaltungen: das Verfassungsgesetz der Gemeinden («Ley Orgánica Constitucional de Municipalidades») und das Verfassungsgesetz der Regionalregierungen («LOC de Gobiernos Regionales»). In den letzten Jahren hat sich der Dezentralisierungsprozess verstärkt. Mit der Reform von 2009 (wirksam seit 2013) wurden die Regionalräte (CORES) durch Volksabstimmung gewählt.

In den Jahren 2017 und 2018 wurden eine Verfassungsreform und zwei ergänzende Gesetze verabschiedet, die einen weiteren wichtigen Fortschritt zur Folge hatten: die Ersetzung der vom Präsidenten ernannten «Intendentes» durch die über Volksabstimmung gewählten Regionalgouverneure. Die wichtigste regionale Behörde wird am 15. und 16. Mai 2021 zum ersten Mal in der Geschichte Chiles demokratisch gewählt. Diese Reform geht auch mit der Übertragung von Befugnissen auf die Regionalregierungen einher.

Parallel dazu werden jedoch Präsidentendelegierte vom Präsidenten der Republik auf regionaler Ebene ernannt. Sie entscheiden über die öffentliche Ordnung und die interne Regierung sowie die Koordinierung der Ministervertreter in der Region (Seremis). Die Kompetenzen dieser Delegierten wirft die Frage auf, ob die demokratisch gewählten Regionalgouverneure über ausreichende Befugnisse verfügen beziehungsweise, ob die tatsächlichen Befugnisse nicht in den Händen der Delegierten des Präsidenten liegen.

Herausforderungen

Trotz der Fortschritte weist Chile immer noch erhebliche Ungleichheiten zwischen den einzelnen Regionen auf und gehört zu den am stärksten zentralisierten Ländern der OECD. Die nicht durch die Zentralregierung bestimmten Staatsausgaben machen in Chile 3,0 Prozent des BIP und 13,1 Prozent der öffentlichen Ausgaben aus, die im OECD-Durchschnitt 16,6 Prozent beziehungsweise 40,2 betragen. 

Eine Beratungskommission für Dezentralisierung und regionale Entwicklung schlug im Jahr 2014 vor, ein Modell voranzutreiben, das die verschiedenen Bereiche der Dezentralisierung umfasst: einen politischen Bereich, der sich auf die Behörden und die Bürgerbeteiligung bezieht; der administrative, der sich auf die Verteilung von Befugnissen bezieht; und der steuerliche, der die Verteilung der Ressourcen betrifft. Desweiteren schlug die Kommission eine Stärkung der lokalen und regionalen staatlichen Institutionen, der Bürgerbeteiligung und der demokratischen Kontrolle vor. 

Mit den jüngsten Reformen werden die Regionalregierungen zu mehr Dezentralisierung auf politischer und administrativer Ebene, jedoch nicht auf der Fiskalebene übergehen. In diesem Sinne ist die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Gouverneure unvollständig und die Abgrenzung zu den Kompetenzen der Zentralregierung ist unklar. Innerhalb dieses unvollkommenen Rahmens wäre dies jedoch ein erster Schritt zur Stärkung der Regionen. Mittelfristig hängt es von den gewählten Gouverneuren ab, ob Befugnisse und Ressourcen übertragen werden und so die regionale Autonomie verbessert wird. 

In jedem Fall kann eine neue Verfassung die Dezentralisierung in allen Bereichen vorantreiben. Ziel ist es, Regionalregierungen so aufzustellen, dass sie einerseits über eine angemessene Autonomie verfügen und andererseits die Kompetenzen zwischen ihnen und der Zentralregierung klar abgegrenzt sind, damit Verantwortung und Zusammenarbeit gefördert werden.

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