Präsidentialismus oder Parlamentarismus in Chile?
Parlamentarismus in Deutschland: Helmut Kohl (1930-2017) wurde am 1. Oktober 1982 durch das bisher einzige erfolgreiche konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte Deutschlands zum Bundeskanzler gewählt.
Präsidentialismus in den USA: George Washington (1732–1799) setzte als erster US-amerikanischer Präsident Maßstäbe und schuf Präzedenzfälle, die alle weiteren Präsidentschaften prägten.
Demokratie kennt zwei Hauptregierungsformen: Präsidentialismus und Parlamentarismus. Die Entscheidung über die Regierungsform wird eine der Hauptdebatten in der künftigen verfassungsgebenden Versammlung für Chile sein. Obwohl es verschiedene Vorschläge gibt, besteht Konsens darüber, dass das derzeitige System des Hyper-Präsidentialismus geändert werden muss.
Entstehung
Regierungsformen können regional verortet werden: Präsidentialismus steht für Amerika, Parlamentarismus für Europa. Nachdem der Präsidentialismus seinen Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika hatte, breitete er sich auf die neuen unabhängigen Republiken von Lateinamerika aus.
Der Parlamentarismus entwickelte sich parallel zu den Monarchien in Europa. Es fand ein Übergang von absoluten Monarchien zu konstitutionellen Monarchien statt, was bedeutete, dass die Macht zwischen dem Monarchen und dem Parlament geteilt wird. Die Umwandlung einiger europäischer Länder in Republiken führt wiederum zu der heutigen Einteilung in parlamentarische Monarchien wie unter anderem das Vereinigte Königreich, Spanien, Belgien und parlamentarische Republiken, zum Beispiel Deutschland, Österreich und Italien. Desweiteren haben sich einige parlamentarische Republiken zu semi-parlamentarischen oder semi-präsidialen Systemen entwickelt wie unter anderem Frankreich, Russland und Polen.
Präsidentialismus und Parlamentarismus
Innerhalb der demokratischen Regierungsformen stehen sich Präsidentialismus und Parlamentarismus gegenüber. Merkmale eines Präsidialsystems sind: die Existenz einer republikanischen und monokratischen Exekutive, das heißt, dass der gewählte Präsident die Funktionen des Staats- und Regierungschefs ausübt. Die Minister sind dem Präsidenten gegenüber politisch verantwortlich, der sie nach Belieben ernennt und entlässt. Der Präsidentialismus ist wiederum durch organische Unabhängigkeit gekennzeichnet, da die Legislative den Präsidenten nicht wählt und die Mitglieder der Exekutive nicht dem Parlament angehören können. All dies führt zu einer deutlichen Funktionentrennung.
In einem parlamentarischen System gibt es eine doppelte Exekutive: das Staatsoberhaupt und den Regierungschef. Das Staatsoberhaupt (Monarch oder Präsident) repräsentiert eine neutrale Gewalt, während die politische Macht beim Regierungschef liegt. Die Minister sind gegenüber der Legislative politisch verantwortlich, das heißt, sie benötigen das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments, um im Amt zu bleiben. Dieses System ist durch eine organische Abhängigkeit gekennzeichnet, da das Parlament den Regierungschef wählt. Der Regierungschef und die Minister wiederum sind (in der Regel) Abgeordnete, was sie als ein System der Zusammenarbeit von Funktionen definiert.
Chilenischer Parlamentarismus
Obwohl Chile in der Zeit zwischen 1891 und 1924 als parlamentarische Republik bezeichnet wird, hatte unser Land nie ein richtiges parlamentarisches System. Aus diesem Grund wurde es als «a modo parlamentario» oder «parlamentarismo a la chilena» bezeichnet.
Der Präsident der Republik hatte nur einen gewissen Einfluss in die Innenpolitik. Es gab keinen richtigen Regierungschef, stattdessen übten der Präsident der Republik, der Innenminister und der Außenminister diese Funtkionen aus. Die Minister waren beiden Kammern des Kongresses gegenüber verantwortlich. Es gab auch eine «gemeinsame» politische Verantwortung: Wenn ein Minister abgesetzt wurde, musste das gesamte Kabinett zurücktreten, was zur Instabilität führte. Die Exekutive hatte nicht die Möglichkeit, die Kammern aufzulösen und vorgezogene Wahlen abzuhalten. Der Kongress handhabte öffentliche Gelder nach eigenem Ermessen und übte parlamentarische Interpellationen aus. Hinzu kam ein undiszipliniertes, oligarchisches Mehrparteiensystem, das die ernsten sozialen Probleme des Landes nicht wahrnahm.
Präsidentialismus in Chile
Der Präsidentialismus hat eine lange Geschichte in Chile und wandelte sich im Laufe der Zeit. Die Vorrangstellung der Exekutive gegenüber der Legislative war bereits in der Verfassung von 1833 vorgesehen, in der festgelegt wurde, dass der Präsident der Republik das Staatsoberhaupt und der Verwalter des Staates war. In den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts entwickelte sich das chilenische Regierungssystem jedoch zu einem ausgeglicheneren Kräfteverhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Kongress. Die Verfassung von 1925 beendete diese Entwicklung und stärkte wieder den präsidialen Charakter mit einer strengen Gewaltenteilung und einer Vorrangstellung des Präsidenten.
Die Verfassung von 1980 gab dem Präsidenten noch mehr Macht, was schließlich zu einem Hyper-Präsidentensystem führte. Obwohl die Verfassungsreformen von 1989 und 2005 die Macht des Präsidenten einschränkten, übt die Exekutive weiterhin weite Regierungs-, Verwaltungs- und Gesetzesinitiative aus. Besonders kritisiert werden die Befugnisse der Exekutive als Mitgesetzgeber. Diese ermächtigen ihn zum Gesetzgeber zu Lasten der Abgeordneten und Senatoren. Die ausschließliche Gesetzesinitiative des Präsidenten in den wichtigsten Bereichen (wenn es um öffentliche Ausgaben geht) führte in den letzten Jahren zur Verschärfung der politischen Krise. Parlamentarier verstoßen heute immer wieder gegen diese Bestimmung und legen Gesetzentwürfe vor, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen.
Herausforderungen und Reformvorschläge
Es besteht ein Konsens, dass das momentane Regierungssystem in Chile verändert werden muss. Das Hyper-Präsidentensystem führt dazu, dass eine Krise der Person des Präsidenten eine Krise des gesamten politischen Systems bedeutet. Andererseits führt der Mangel an Befugnissen der Parlamentarier dazu, dass sie sich nicht für die Stabilität des politischen Systems verantwortlich fühlen.
Aus diesem Grund schlagen Vertreter verschiedener politischer Strömungen vor, ein Regierungsmodell der Zusammenarbeit zwischen dem Präsidenten und dem Kongress zu entwickeln, das Institutionen des Semi-Präsidentialismus einbezieht, die Exekutivfunktion stärkt und dem Kongress mehr Verantwortung überträgt.
Zu diesem Zweck wird vorgeschlagen, die Funktionen des Staatsoberhauptes (Präsidenten) und des Regierungschefs (Premierministers) zu trennen, und dass der Präsident den Kongress während seiner Amtszeit ein einziges Mal auflösen darf, sowie das konstruktive Misstrauensvotum der Abgeordnetenkammer gegen den Regierungschef einzuführen. Desweiteren soll die Unvereinbarkeit zwischen Minister und Parlamentarier flexibler gestaltet werden.
Ebenso wird vorgeschlagen, dem Senat größeren Entscheidungsspielraum bei der Ernennung von Behörden und Positionen zu übertragen, die heute im Ermessen des Präsidenten der Republik liegen, wie beispielsweise Botschafter.
In Bezug auf die Amtszeit des Präsidenten erscheint es vernünftig, einen Zeitraum von vier Jahren mit der Möglichkeit einer sofortigen (und letzten) Wiederwahl vorzuschlagen (System der Vereinigten Staaten). Dieses System bietet der wiedergewählten Regierung genügend Zeit, um ein Programm vollständig abzuarbeiten und gute Ergebnisse zu erzielen. Gleichzeitig haben die Bürger die Möglichkeit, eine schlechte Regierung nach vier Jahren abzuwählen oder sie einmal wiederzuwählen.
Die derzeitige Regelung der Amtszeiten weist zwei Probleme auf: Einerseits ist die Periode zu kurz, um ein Regierungsprogramm adäquat durchzuführen, Reformen voranzutreiben und Ergebnisse vorzuweisen. Andererseits erschwert das aktuelle System die Erneuerung der politischen Führung. Die Tatsache, dass ein ehemaliger Präsident oder eine ehemalige Präsidentin noch einmal kandidieren darf, kann dazu führen, dass wiederholt der gleiche Kandidat oder die gleiche Kandidatin wiedergewählt werden.