Gestalten aus dem Nebel der Sprache
Ein echter Sprachkünstler: Christian Morgenstern liebte das Spiel mit Wörtern und Buchstaben. Vor allem seine humoristischen Gedichte sind bekannt und beliebt, aber es lohnt sich, sich auch mit dem übrigen Werk des vor 150 Jahren geborenen deutschen Dichters zu befassen.
Kroklokwafzi? Semememi!
Seiokrontro –prafriplo:
Bifzi, bafzi; hulalemi:
quasti basti bo …
Lalu lalu lalu lalu la!
Dies ist eine Strophe aus dem Gedicht «Das große Lalula» von Christian Morgenstern. Eine Frage, die sich lyrikerfahrenen Lesern aufdrängen könnte, wäre: Was soll das sein? Oder vielleicht sogar: Was soll das? Zwar finden sich hier Buchstaben, die nach sprachlichen und orthografischen Konventionen anscheinend zu Worten zusammengefügt werden, es finden sich Satzzeichen, die man aus dem alltäglichen Sprachgebrauch kennt und den «Text» – wie auch immer – bedeutungsvoll aufladen, dazu lässt sich ein Versmaß ausmachen – doch die Worte selber finden sich nicht im Sprachgebrauch, sie ergeben keinen Sinn: Nonsens!
In dem Gedicht liegt eine Provokation, da es mit Lyrikkonventionen spielt, aber ein Entschlüsseln des Sinns nach sprachlichen Gewohnheiten unmöglich macht. Lässt man sich darauf ein, erkannt man plötzlich ganz andere Möglichkeiten, das Gedicht zu lesen: In der Systematik von Buchstaben, Wiederholungen und Satzzeichen finden sich eine Vielzahl von Regelmäßigkeiten, Anspielungen und Symboliken, die bis heute noch Interpreten herausfordern. Und weitergedacht fällt auf: Lässt sich so nicht der Zugang des Menschen als Kind zur Sprache überhaupt beschreiben? Das Entschlüsseln fremder Zeichen, die in irgendwelchen Regelmäßigkeiten systematisch zusammengesetzt werden und so einen neuen Sinn ergeben. So liest sich «Das große Lalula» auf den zweiten Blick vielleicht nicht mehr als bloße Provokation, sondern als Beispiel für das, was Morgenstern, sein Autor, mit «Spiel- und Ernst-Zeug» beschrieb – über einen spielerischen Zugang, Sprache neu zu entdecken und zu denken.
Christian Morgenstern, der am 6. Mai seinen 150. Geburtstag feiern würde, hat nicht nur ein bewegtes Leben, sondern auch eine turbulente Rezeptionsgeschichte hinter sich. Als beliebter Stoff im Deutschunterricht sind seine «Galgenlieder» mit ihrem verspielten und humorvollen Umgang mit Sprache mittlerweile ins kollektive kulturelle Gedächtnis eingegangen – einer seiner lyrischen Gestalten hat es inzwischen doch sogar in den Duden geschafft: das Nasobēm.
Das Nasobēm
Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobēm,
von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm.
Es steht noch nicht im Meyer.
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.
Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobēm.
Dabei werden seine bekannten Gedichte oft mit dem Label «Kinderlyrik» versehen, was sich gut mit dem sprechenden Namen des Autors verträgt, aber oft auch (zu Unrecht) eine etwas abschätzige Konnotation trägt. Im Gegensatz zu dieser populären Wahrnehmung hat sich eine vielfältige Forschungstradition um Morgenstern gebildet, die ihr Interesse im Verlauf des 20. Jahrhunderts abwechselnd auf sein – nach seiner eigenen, durchaus wertend gemeinten Einteilung – humoristisches oder ernstes Oeuvre richtete. Grob lässt sich diese Einteilung weiterhin in Frühwerk (darunter auch die Galgenlieder, die 1905 veröffentlicht wurden) und Spätwerk sowie seiner Hinwendung zur Anthroposophie gliedern. Der Konsens ist aber auch hierbei eine Aufwertung der humoristischen oder – wie Jochen Schimmang in seiner sehr lesenswerten, 2013 erschienen Morgenstern-Biografie als angemesseneren Begriff vorschlägt – «subversiven» Lyrik der Galgenlieder im Kontext der Moderne.
Morgensterns Biografie ist bedauerlicherweise recht kurz, er starb im Alter von 42 Jahren, aber dafür umso reicher und ein exemplarisches Beispiel eines modernen Künstlerlebens um die Jahrhundertwende – mit all ihren Brüchen und Widersprüchlichkeiten. Geboren 1871 und gestorben 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, durchlebte Morgenstern die Umbruchszeit der Wilhelminischen Ära und war Zeitgenosse von Stefan George, Rainer Maria Rilke und den Sprach-Experimentalisten des Naturalismus, wie Arno Holz.
Er setzte sich intensiv mit Friedrich Nietzsche und dessen Sprachphilosophie sowie dem, heutzutage als Antisemiten und Wegbereiter des Nationalsozialismus in Verruf geratenen, Philosophen Paul de Lagarde auseinander. Seit den 1890er Jahren lebte er mit längeren Unterbrechungen (um zu reisen, aber oft auch aus gesundheitlichen Gründen, da er an Tuberkulose litt) in Berlin. Er las und übersetzte Henrik Ibsen aus dem Norwegischen, das er sich in kürzester Zeit selbst aneignete, übersetzte Strindberg aus dem Französischen. Nachdem er 1909 mit Rudolf Steiner in Kontakt kam, wendete er sich der Anthroposophie und Theosophie zu.
Dass sich sein Nachruhm hauptsächlich auf das humoristische Oeuvre stützt, liegt wahrscheinlich nicht unbedingt im Interesse Morgensterns. Aus Sicht der Leser ist dies aber weder verwunder- noch bedauerlich. Über seine modernen wie zeitlosen, verspielten Betrachtungen finden auch heute noch Jung und Alt, vom Grundschüler bis zum Linguisten, einen spannenden und vor allem unterhaltsamen Zugang zur Sprache. Doch auch «Ernsteres» lohnt sich wiederzuentdecken, wie zum Beispiel der Gedichtband «Melancholie», der 1906, also kurz nach den Galgenliedern erschien. Darin findet sich unter anderem das Gedicht «Nebel am Wattenmeer», das vielleicht weniger subversiv daherkommt, aber in seiner Kürze, in der es von Naturbetrachtung zu Stimmungsgedicht kippt, von der Meisterschaft von Morgensterns Sprachkunst zeugt:
Nebel, stiller Nebel über Meer und Land.
Totenstill die Watten, totenstill der Strand.
Trauer, leise Trauer deckt die Erde zu.
Seele, liebe Seele, schweig und träum auch du.