Einfluss des deutschen Rechts auf Chiles Verfassung von 1980

Die chilenische Verfassungsordnung ist in westliche Rechtssysteme eingebettet und teilt mit diesen Ländern politische Prinzipien und staatliche Organisationsregeln. Unser Land hat auch einige Grundsätze in seine Verfassung aufgenommen, die für das deutsche Grundgesetz und sein Rechtssystem charakteristisch sind.
Prinzip der wehrhaften Demokratie oder eines beschränkten Pluralismus
Die Idee einer streitbaren oder wehrhaften Demokratie wurde in der Politikwissenschaft als Folge der Erfahrungen der Weimarer Republik entwickelt. Die Beobachtung, wie die Feinde der ersten deutschen Demokratie, Nationalsozialisten und Kommunisten, die Freiheitsräume nutzten, die ihnen das System selbst gab, um dieser jungen Demokratie ein Ende zu setzen, veranlasste Karl Popper, sein Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» im Jahre 1945 zu schreiben. Darin wirft er das «Paradox der Toleranz» auf. Dies bedeutet, dass wenn eine Gesellschaft unbegrenzt tolerant ist, ihre Fähigkeit, tolerant zu sein, letztendlich durch die Intoleranz verringert oder zerstört wird. Popper kam zu dem Schluss, dass, um eine tolerante Gesellschaft aufrechtzuerhalten – obwohl es paradox erscheint – , die Gesellschaft intolerant gegenüber Intoleranz sein muss.

Der Parlamentarische Rat, der 1948/49 das Bonner-Grundgesetz erarbeitete, nahm ausdrücklich Bezug auf die Erfahrungen der Weimarer Republik und übernahm das Konzept Poppers. Nicht noch einmal sollte es Verfassungsgegnern gelingen, das demokratische System derart zu demontieren. Die Idee der «wehrhaften Demokratie» ist daher im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert und durch verschiedene Artikel festgeschrieben. Zu den wichtigsten gehören das Verbot von Parteien und Vereinigungen, wenn ihre Aktivitäten sich nicht im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Diesbezüglich lautet Artikel 21 Absatz 2: «Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.» Ergänzend erklärt Artikel 9 Absatz 2, dass «Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit dem Strafgesetz zuwiderlaufen oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten». Desweiteren ist im Artikel 18 die Aberkennung von manchen Grundrechten vorgesehen, wenn diese zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht werden.
Dieser Grundsatz der wehrhaften Demokratie wurde in die chilenische Verfassung von 1980 in Artikel 8 aufgenommen, dessen Inhalt nach der Reform von 1989 auf Artikel 19 Nummer 15 überging. Diese Norm, die das Vereinigungsrecht verankert, legt in ihrem sechsten Absatz fest, dass «Parteien, Bewegungen oder andere Organisationsformen, deren Ziele, Handlungen oder Verhaltensweisen die Grundprinzipien des demokratischen und konstitutionellen Regimes nicht respektieren, die Errichtung eines totalitären Systems anstreben, sowie solche die Gewalt anwenden, befürworten oder aufstacheln als Methode des politischen Handelns, verfassungswidrig sind. Es steht dem Verfassungsgericht zu, die Verfassungswidrigkeit zu erklären.»
Prinzip der innerparteilichen Demokratie
Ein weiteres Phänomen der «Zwischenkriegszeit» war die Existenz totalitärer Parteien, die eine Person erhoben, die unbegrenzte Macht ausübte und autoritär regierte. Dies war der Fall bei der italienischen «Partito Nazionale Fascista» und der in Benito Mussolini verkörperten Figur des «Duce» sowie bei der NSDAP und dem «Führer» Adolf Hitler, der blinden Gehorsam forderte. Aus den furchtbaren Konsequenzen für die Gesellschaften, in denen diese Parteien die Staatsgewalt ausübten, wird das Prinzip entwickelt, dass die Parteien, die an der Demokratie teilnehmen, wiederum eine interne demokratische Struktur haben müssen.
Das deutsche Grundgesetz verankert diesen Grundsatz in Artikel 21 Absatz 1: «Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.» Das Parteiengesetz von 1967 regelt die Grundsätze dieser innerparteilichen Demokratie genauer und enthält grundlegende Vorschriften über die Struktur und den Aufbau der Parteien. Demnach müssen Entscheidungen von den Parteimitgliedern oder durch von Parteimitgliedern gewählten Delegierten in Wahlen und Abstimmungen getroffen werden. Parteiämter müssen jeweils für eine begrenzte Zeit in geheimer Wahl besetzt werden. Alle Mitglieder haben gleiches Stimmrecht.
Dieser Grundsatz wurde in Artikel 19 Nummer 15 in die chilenische Verfassung aufgenommen. Bei der Festlegung der Regulierung politischer Parteien heißt es: «Ihre Statuten müssen die Normen berücksichtigen, die eine wirksame interne Demokratie gewährleisten.» Wie in Deutschland regelt das Parteiengesetz die Ausübung und Struktur der inneren Demokratie im Detail.
Unantastbarkeit des Wesensgehalts der Grundrechte
Frühere Verfassungsgeber glaubten, dass ein Staat, der sich einmal in seiner Verfassung zu Grundrechten bekannt hatte, diese auch in der Zukunft respektieren werde. Man hielt das Individuum für genügend geschützt, wenn die Möglichkeit, Grundrechte einzuschränken, einer parlamentarischen Volksvertretung vorbehalten blieb.
Die Erfahrungen mit der unzureichenden Absicherung der Grundrechte und ihrer zunehmenden Aushöhlung in der Spätphase der Weimarer Republik sowie die traumatischen Erfahrungen in der nationalsozialistischen Diktatur haben die Anschauungen über das Verhältnis von Individualrechten und Staatsgewalt in Deutschland grundlegend geändert. Dies führte zur Verankerung des Prinzips der Unantastbarkeit des Wesengehalts der Grundrechte im Artikel 19 Absatz 2 des Bonner Grundgesetzes: «In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.»
Diese Norm ist ein mahnendes Ausrufungszeichen für die öffentliche Gewalt, den Wesensgehalt der Grundrechte zu achten. Dabei geht es in erster Linie um den Gesetzgeber. Er darf durch Gesetze, die entweder selbst Grundrechte einschränken oder die Exekutive oder Judikative zum Eingriff in solche ermächtigen, die einzuschränkenden Grundrechte nicht in ihrem Wesensgehalt antasten.
Das Prinzip der Unantastbarkeit des Wesensgehalts der Grundrechte wurde in der chilenischen Verfassung im Artikel 19 Nummer 26 aufgenommen. Diese Norm gibt allen Personen die Sicherheit, dass «die rechtlichen Vorschriften, die im Rahmen ihres Verfassungsmandats die von der Verfassung festgelegten Garantien regulieren oder vervollständigen beziehungsweise diese auf jene von ihr genehmigten Fälle beschränken, die Rechte in ihrem Wesen weder beeinträchtigen können, noch ihnen Bedingungen, Attribute oder Requisiten auferlegen können, die ihre freie Ausübung verhindern.»
Autonomie der Zentralbank
Eine unabhängige Zentralbank ist eine der wichtigsten Institutionen, die im 20. Jahrhundert in Chile eingeführt wurde. Wenn man die historische Entwicklung der Inflation Chiles betrachtet, ist offensichtlich, dass die Autonomie der Zentralbank ein Vorher und Nachher markiert.

Obwohl das deutsche Grundgesetz von 1949 das Unabhängigkeitsprinzip der Bundesbank in seinem Text nicht verankert, verleiht das Bundesbankgesetz der Bundesbank eine weitgehende Autonomie bei der Geldpolitik. Das Prestige und die positiven Erfahrungen des deutschen Systems haben daher die chilenische Verfassung von 1980 beeinflusst. Artikel 108 legt fest, dass die Zen- tralbank eine autonome Einrichtung mit eigenem Vermögen ist, deren Zusammensetzung und Organisation, Funktionen und Befugnisse im Gesetz (ley orgánica constitucional) festgelegt werden.