Lesespaß für jeden Geschmack
«Wir feiern das Lesen» schrieb der Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf seiner Internetseite zum Unesco-Welttag des Buches 2020. Diesem Aufruf schließen auch wir uns am 23. April an, der außerdem der Todestag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes ist. Die Cóndor-Redakteure stellen ihre Lieblingsbücher vor.
Der Apfelbaum – Erinnern heißt auch Weiterleben
Von Paula Castillo
Wahrscheinlich geschieht es täglich, dass zwei Menschen sich begegnen und ineinander verlieben. Doch seltener passiert es, dass die neue Beziehung das ganze Leben der beiden ändern wird.
So geht es im Jahr 1932 in Berlin der dreizehnjährigen Sala Nohl, einem bürgerlichen Mädchen, und dem siebzehnjährigen Otto Berkel, einem Jungen aus einer Arbeiterfamilie. Während Sala als Tochter gutsituierter, geschiedener Eltern aufwächst, muss Otto sich selbst den Weg erkämpfen, um aus seinem Millieu herauszukommen.
Er gerät dabei in einen Identitätskonflikt: Zu unterschiedlich sind die Welten der Oberschule und der eigenen Familie. Daraufhin kommt es bei dem jungen Mann zu einer Serie falscher Entscheidungen, die ihn schließlich zu einem Einbrecher machen. Als er in die Wohnung von Johannes Nohl eindringt, wird er ausgerechnet von dessen Tochter aus dem Schlamassel befreit. Sala und Otto verlieben sich ineinander und somit verändert sich das Leben des Jungen aus dem Arbeiterviertel komplett. Dank der Unterstützung Nohls gelingt es Otto, Medizinstudent zu werden. Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Salas Mutter ist Jüdin, doch Sala sieht naiverweise keine Gefahr für sich, weil ihre Mutter nicht in Berlin, sondern in Madrid lebt. Sala und Otto werden bald von den gefährlichen Ereignissen dieser Zeit mitgerissen und müssen lange mit der Frage leben, ob sie sich jemals wiederfinden werden.
Dass Otto und der Autor des Romans den gleichen Nachnamen tragen, ist kein Zufall. Christian Berkel, der in Deutschland als Schauspieler sehr bekannt ist, schreibt in seinem Debütroman eine Geschichte, die sich stark an seine eigene Familiengeschichte anlehnt.
Ich habe den Roman als eine Aufforderung verstanden, Erinnerungen zu pflegen, auch wenn es schmerzlich ist. Ein Thema, das gerade sehr aktuell ist, da die Zeugen des Zweiten Weltkrieges aufgrund ihres Alters leider immer seltener werden und somit die Versuchung, das Schreckliche in den Menschen zu relativieren, stärker wird. Berkel taucht in die eigene Familiengeschichte ein, ohne die Figuren zu beurteilen. Das Ergebnis sind 416 sehr interessante Seiten: Eine Erinnerung daran, dass ein Menschenleben erst aufhört, wenn man es vergisst.
«Magische Märchen» – in drei Sprachen
Von Nicole Erler
Im dreisprachigen Märchenbuch «Magische Märchen – Cuentos mágicos – Magical fairytales» werden in fünf Märchen die fünf besonderen Beziehungen unseres Lebens dargestellt. Innerhalb der Beziehungen zu unseren Eltern, zu unseren Geschwistern, zu unseren Freunden und Partnern sowie zu unseren Kindern sind wir immer wieder – mehr oder weniger stark – emotionalen Situationen ausgesetzt, die uns berühren oder aufwühlen.
In fünf märchenhaften Erzählungen finden verschiedene Protagonisten sich selbst in alltäglichen, aber herausfordernden Gefühlssituationen wieder, die jeder von uns kennt: Einsamkeit, Eifersucht, Verrat und anderes. Auf ihrem Weg sind sie nicht allein. Sie werden von mächtigen Gefährten begleitet, die sie schützen und sie auf ihrem übergeordneten Weg leiten. Sie sind immer zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit den richtigen Menschen, damit sich ihr innerer Plan erfüllt. Sie bemerken jedoch erst im Rückblick auf diese Situation, wie jeder Schritt sie näher zu sich selbst und zu den anderen geführt hat. In der Welt der Märchen ist fast alles möglich. Die mächtigen Gefährten der Protagonisten treten oftmals als Wesen aus der Tierwelt oder als Naturereignisse auf – und auch das akzeptieren wir in der Welt der Märchen. Märchen öffnen einen Raum unseres Herzens, wo der Verstand aussetzt, und wir intuitiv dem «Magischen» Eintritt in unser Inneres gewähren. Viele Märchen berühren und heilen die Seele auf eine besondere Art und Weise, still und tief.
Das E-Book ist im Eigenverlag «Schreiblabyrinth» erschienen und ist weltweit über den Buchhandel erhältlich. Eine Print-Ausgabe des Buches ist in der Bibliothek des Goethe-Instituts in Santiago ausleihbar.
Ein Hans im Glück
Von Silvia Kählert
Das Buch «Glückskind» ist ein Glücksfall für seine Leser – der Roman zieht einen sofort in seinen Bann. Und das Erstaunliche dabei ist, dass der Autor zunächst eine eigentlich abstoßende Geschichte erzählt.
Noch zusätzlich von einem ebenso abstoßenden Ich-Erzähler, der sich selbst einen «behausten Obdachlosen» nennt. In der Wohnung von Hans türmt sich das Geschirr, der Dreck und Gestank haben schon von ihm selbst Besitz ergriffen. Der Langzeitarbeitslose schafft es nicht einmal, den Antrag für sein Hartz-IV-Geld pünktlich abzuschicken. Später erfährt der Leser, dass der Endfünfziger einmal eine Frau und zwei Kinder hatte. Doch beruflich scheiterte er ebenso wie privat.
In der ersten Szene versucht der verwahrloste Mann, möglichst schnell seinen Müllbeutel loszuwerden – erstarrt aber, als ihn im Müllcontainer ein Baby anblickt. Hans stellt sich der neuen Verantwortung. Der am Anfang im Selbstmitleid versinkende Mann beginnt sich zu verändern, findet wieder Sinn im Leben und sucht mutig einen neuen Weg. Dabei begegnen ihm Menschen, die ihn unterstützen, zu Freunden werden – auch als gegen Schluss die schwierige Entscheidung ansteht, wie es denn nun mit der inzwischen mehr als ein eigenes Kind geliebten Felizia weitergehen soll. Eine berührende, manchmal sogar komische und bis zum Schluss sehr spannende Geschichte.
Vielleicht kann es nur einem Autor wie Steven Uhly gelingen, eine Geschichte, die in einer tristen Hochhaussiedlung angesiedelt ist, so einfühlsam und gleichzeitig den Leser mitreißend zu erzählen. Der Literaturwissenschaftler und Übersetzer ist 1964 in Köln geboren und hat deutsch-bengalische und spanische Wurzeln. Geprägt durch viele Kulturen und gleichzeitig zuhause in Deutschland öffnet er den Blick für eine Realität, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist.
Für das deutsche Fernsehen wurde das Buch 2014 als Tragikkomödie verfilmt und die Filmversion gibt es auch als DVD.
Sie erwartet nichts, sie fürchtet nichts, sie ist frei
Von Arne Dettmann
Autor Rainer Moritz erzählt in seinem Roman «Als wenn das Leben so wär» von einer Frau, die gesellschaftlichen Ansprüchen entsagt und dadurch frei wird. Lisa Scherer gibt es vielleicht millionenfach. Gewöhnliche Menschen, die nicht auf den Mount Everest steigen, sondern aufs Fahrrad, um irgendwo Tische abzuräumen, Bier zu zapfen und abends zu Hause mit der eigenen Katze zu schmusen. Lohnt es sich, ein solches Durchschnittsleben literarisch auf 200 Seiten darzustellen?
Im Zeitraffer von den 1960er Jahren bis heute begleitet der Leser die Heldin des Alltags, die am norddeutschen Fluss Schlei aufwächst und Buchhändlerin in Hamburg wird. Lisa Scherer hat keinen großen Lebensplan, sie will weder Ehe noch Kinder oder Karriere. Selbstbewusst entzieht sich die Protagonistin den gesellschaftlichen Erwartungen und blickt mal gelangweilt, mal verwundert auf ihre ehrgeizigen Mitmenschen. «Warum tust du dir das an?», fragt Lisa ihre jüngere Schwester lakonisch, die sechs Kinder zur Welt bringt.
Mit 30 Jahren lässt Lisa Scherer einen sicheren Job sausen und nimmt ein Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften in Berlin auf. Die Fachsimpelei in den Seminaren ist nicht ihr Ding. Sie schlendert lieber durch Museumssäle, lässt sich von ihren Sinnen leiten anstatt alles erklären und erörtern zu wollen. Selbstporträts von berühmten Malern, aber auch Kindheitsfotos ihrer Mutter öden sie an. Wer sich zu wichtig nimmt, der verliert die Welt.
Rainer Moritz porträtiert eine eigensinnige Frau, die sich nicht binden will und keinem Liebhaber lange hinterher weint. Als sich mit den Jahren dann doch eine feste Beziehung etabliert, nimmt sie es erstaunt zur Kenntnis. Ihre voraussichtliche Rente verheißt nichts Gutes für die Zukunft, doch Lisa lebt im Hier und Jetzt und will nicht zu den ewig sorgenvollen Vorausplanern zählen. Sie feiert ihr kleines Leben in Freiheit – ohne Kummer und doch stets mit einem Hauch von Melancholie im Bewusstsein, dass jeder Moment vergänglich ist.
«Wahrscheinlich ist es wahr, dass uns ein Mensch immer unbekannt bleibt und es in ihm immer etwas Unauflösbares gibt, dass sich uns entzieht.» Der Autor leitet mit diesem Zitat von Albert Camus seinen Roman ein. Am Ende lässt sich die 50-Jährige auch vom Krebs nicht ihre Selbstbestimmtheit nehmen. Das Unauflösbare macht den Leser sprachlos und noch lange Zeit nachdenklich.
Die Buddenbrooks – der Welt-Klassiker über eine Lübecker Kaufmannsfamilie
Von Karla Berndt
In seinem 1901 erschienenen Roman «Buddenbrooks» mit dem Untertitel «Verfall einer Familie» erzählt Thomas Mann vom sukzessiven, sich über mehrere Generationen erstreckenden Untergang einer wohlhabenden und angesehenen Lübecker Kaufmannsdynastie.
Ich erinnere mich noch genau, dass ich das Buch in der 10. Klasse zum ersten Mal gelesen habe und schon damals beeindruckt von der klaren Sprache des Autors und seiner feinen Ironie war. Die einzelnen Figuren der Geschichte werden so lebendig dargestellt, dass man sie fast vor sich sieht…
Die Geschichte setzt 1835 bei einem prunkvollen Essen im Haus der Familie ein, und schon in dieser ersten Szene zeichnet Thomas Mann ein detailreiches Bild des hanseatischen Großbürgertums im 19. Jahrhundert. Familienangehörige, Bekannte und Geschäftsfreunde sind «auf ein ganz einfaches Mittagsbrot» gebeten worden. Gegessen wird von Meißner Tellern mit Goldrand und mit schwerem Silberbesteck. Das Menü besteht aus Kräutersuppe, Fisch, einem kolossalen panierten Schinken mit Schalottensauce und verschiedenen Gemüsen. Darauf folgt Plettenpudding, ein schichtweises Gemisch aus Makronen, Himbeeren, Biskuits und Eiercreme, zu dem traubensüßer Malvasier in kleinen Dessertweingläsern gereicht wird.
Abschließend trägt das Dienstmädchen noch Butter, Käse und Früchte auf…
Eine interessante Figur am Rande, die immer wieder bei den wichtigen Familienereignissen der Buddenbrooks auftaucht, ist Therese Weichbrodt, genannt Sesemi. Alleinstehende Leiterin eines privaten Mädchenpensionats (in das die Familie ihre schwererziehbare Tochter Toni gegeben hat), wird sie als winzig, bucklig, immer altertümlich und schwarz gekleidet sowie streng diszipliniert beschrieben. Sie neigt dazu, in ihrer Sprache die Vokale überzubetonen – so sagt sie nicht «Zuckerbüchse», sondern «Zockerböchse», ein Begriff, den ich begeistert in den Sprachgebrauch meiner Familie eingebracht habe.
Thomas Mann (1875–1955) war der wohl bedeutendste Epiker deutscher Sprache des
20. Jahrhunderts. Sein Gesamtwerk umfasst zwölf Romane, über 30 Erzählungen, zwei Bühnenstücke, rund 30 Essays sowie ein knappes Dutzend autobiografische Schriften.
1929 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, vornehmlich für »Buddenbrooks«. Ein Buch, dass ich immer wieder gern lese!
Canaris – Biographie einer rätselhaften Persönlichkeit
Von Walter Krumbach
Admiral Wilhelm Canaris, Leiter der «Abwehr», des Geheimdienstes der Wehrmacht, bemühte sich zunächst loyal um die Ziele des Nationalsozialismus, schwenkte jedoch bereits vor Kriegsbeginn um, ließ nun von der Abwehr Informationen sammeln, die die Gestapo belasteten und nahm der Parteiführung gegenüber eine immer kritischere Haltung ein.
Canaris wurde zum Doppelgänger: Zum einen spionierte er für die Regierung und zum anderen war er im Widerstand aktiv. Nach einigen Fehlleistungen der Abwehr wurde er im Februar 1944 aus seinem Amt entlassen. Am 23. Juli – drei Tage nach dem Attentat auf Hitler – wurde er verhaftet und mit schweren Beschuldigungen konfrontiert. Der listige Admiral konnte sie vorerst entschärfen, aber bald häuften sich die Beweise gegen ihn. Er wurde wiederholt verhört und schließlich am 9. April 1945 hingerichtet.
Heinz Höhnes Buch schildert auf 570 Seiten mit Sachkenntnis und ins Detail gehend den Werdegang und das Schicksal des rätselhaften Mannes. Die Erzählung beginnt am 14. März 1915, als der ramponierte Kreuzer «Dresden», der an der Insel Más a Tierra Zuflucht gesucht hat, von drei Schiffen der Royal Navy entdeckt und angegriffen wird. Kapitän Fritz Lüdecke befiehlt seinem Oberleutnant Wilhelm Canaris, mit den Engländern einen Waffenstillstand zu verhandeln. Der junge Offizier fährt auf einer Barkasse unter starkem Artilleriebeschuss zur «Glasgow». Kapitän John Luce empfängt ihn, Canaris wirft ihm einen eklatanten Bruch des Völkerrechts vor, weil der deutsche Kreuzer sich auf chilenischem und damit neutralem Hoheitsgebiet befindet.
Nach der Selbstversenkung der «Dresden» wird ihre Besatzung von der chilenischen Marine auf der Insel Quiriquina interniert. Canaris flüchtet. Auf dem Festland hilft ihm ein Gutsbesitzer namens Puffe, sodass er bald mit falschen Papieren ausgestattet abreist. Anfang Oktober erreicht er Hamburg, wo er alsbald dem Admiralstab Bericht über die letzte Fahrt der «Dresden» erstattet.
Heinz Höhne lotet nicht nur sämtliche Licht- und Schattenseiten seiner Figur aus, sondern untersucht drei ereignisreiche Zeitspannen des 20. Jahrhunderts: den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Unbedingt lesenswert!