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Chiles neue Verfassung (Teil 7)

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Unterzeichnung der Verfassung im Roten Saal des Präsidentenpalastes La Moneda in Santiago 1925 (Arturo Alessandri Dritter von links)

Präsident Arturo Alessandri verkündete am 18. September die Verfassung von 1925. Diese Verfassung begründete das präsidiale Regierungssystem in Chile. Sie galt einen Großteil des 20. Jahrhunderts und räumte dem Staat eine grundlegende Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes ein.

Entstehung

Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geriet das chilenische politische System in eine tiefe Krise. Das Aufkommen populärer sozialer Bewegungen stellte die oligarchische Führung des Staates in Frage und forderte tiefgreifende politische, soziale und wirtschaftliche Reformen. Das System «a modo parlamentario» erwies sich als unfähig, sich den neuen sozialen Anforderungen zu stellen. Es war durch die ständigen Rotationen der Minister, die Kämpfe zwischen politischen Fraktionen und einem schwachen Präsidenten, der wenige Kompetenzen hatte, gelähmt.


Arturo Alessandri (1868-1950) während seiner zweiten Amtszeit als Präsident von 1932 bis 1938

Der Reformwille von Präsident Arturo Alessandri (1920-2025) stieß im Kongress auf starken Widerstand. Eine Militärbewegung im September 1924 führte zum Rücktritt und zum kurzen Exil von Präsident Arturo Alessandri. In Wirklichkeit richtete sich der militärische Aufstand jedoch nicht gegen den Präsidenten, sondern gegen den Kongress, der nicht auf die Forderungen der Bevölkerung eingegangen war. Daher forderte das Militär selbst die Rückkehr von Alessandri, damit er eine verfassunggebende Versammlung einberufen sollte. Nach seiner Rückkehr im März 1925 begann Alessandri, eine neue Verfassung vorzubereiten, die die von 1833 ersetzen sollte. Dafür berief er Politiker unterschiedlicher Richtungen (Konservative bis Kommunisten) und Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.

Der neue Verfassungstext wurde in einer Volksabstimmung im August 1925 mit 95 Prozent der Stimmen angenommen. Die von einigen politischen Parteien befürwortete Stimmenthaltung belief sich jedoch auf 55 Prozent aller wahlberechtigen Bürger. Diese Tatsache schwächte die demokratische Legitimität der neuen Verfassung.

Dabei muss erwähnt werden, dass die neue Verfassung aufgrund der politischen Instabilität der Jahre nach ihrer Verkündung erst Ende 1932 ihre volle Wirkung entfalten konnte.

Stärkung des Präsidialsystems

Die Verfassung von 1925 mit ihren 110 Artikeln in insgesamt zehn Kapiteln schaffte den institutionellen Rahmen für ein politisches System, das über weite Teile des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Es zeichnete sich dadurch aus, dass der Präsidentialismus als Regierungsform wiederhergestellt wurde. Der Präsident war Regierungschef und Staatsoberhaupt und übte umfassende Regierungs-, Verwaltungs- und Gesetzgebungsbefugnisse aus. Der Präsident konnte selbst Minister ernennen und entlassen, die nur sein Vertrauen benötigten, um im Amt zu bleiben. Die Verfassung sah eine strikte Funktionstrennung vor: Es bestand die Unvereinbarkeit der Ämter des Parlamentariers mit denen des Ministers.

Als Mitgesetzgeber hatte der Präsident in bestimmten Angelegenheiten die ausschließliche  Gesetzgebungsinitiative. Er konnte vom Kongress genehmigte Projekte ablehnen (Vetorecht) und die Bearbeitung von Projekten durch die «Urgencias» beschleunigen.

Der Präsident wurde zum ersten Mal in der Geschichte Chiles durch ein direktes Wahlsystem gewählt. Er war sechs Jahre im Amt, ohne für die unmittelbar folgende Periode wiedergewählt werden zu können. Für den Fall, dass kein Kandidat mehr als die Hälfte der Stimmen erhielt, mussten sich im Plenarkongress die beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenanzahl noch einmal zur Wahl stellen. Diese Situation trat bei den Präsidentschaftswahlen von 1946, 1952, 1958 und 1970 ein, wobei der Plenarkongress immer den Kandidaten wählte, der die meisten Stimmen hatte. 

Die gesetzgebende Gewalt setzte sich aus dem Senat und der Abgeordnetenkammer zusammen. Die Abgeordneten wurden von den «Departamentos» im Verhältnis zur Bevölkerung gewählt (ein Mandat pro 30.000 Einwohner) und hatten eine Amtszeit von vier Jahren. Senatoren wurden für acht Jahre gewählt, insgesamt 45, fünf für jeden Wahlkreis. Die Abgeordneten übten die Funktion der Gesetzgebung und die Überwachung der Regierung und Verwaltung aus und konnten den Präsidenten, die Minister und andere Behörden vor dem Senat mit Berufung auf die Verfassung anklagen. Der Senat erfüllte die Funktion der Gesetzgebung und musste manchen Ernennungen zustimmen, unter anderem wenn Botschafter ernannt wurden. 

Die Verfassung von 1925 beendete die «Leyes Periódicas» als Instrument des politischen Drucks des Kongresses gegenüber dem Präsidenten. Nun galt die Regel, dass wenn die Legislative das von der Exekutive vorgelegte Haushaltsgesetz nicht innerhalb der in der Verfassung festgelegten Frist genehmigte, der Gesetzesentwurf des Präsidenten automatisch gelten würde.

Sozialer Rechtsstaat

Die Verfassung gab dem Staat eine grundlegende Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und schuf einen sozialen Rechtsstaat, der zwischen 1925 und 1973 ausgebaut wurde. Dieser bezog sich auf die Arbeit, Industrie und die soziale Lage der Menschen. Vor allem sollten die Wohnsituation und die wirtschaftlichen Lebensbedingungen so beschaffen sein, dass die Bürger ein Minimum ihrer persönlichen Bedürfnisse befriedigen konnten.

Trennung von Staat und Kirche

Während seines kurzen Exils nutzte Präsident Alessandri seinen Aufenthalt in Italien, um mit dem Vatikan über Bedingungen einer Trennung zwischen Staat und Kirche zu verhandeln. So wurde in der neuen Verfassung die Trennung verankert und die weitestgehende Gewissens- und Religionsfreiheit gewährleistet.

Reformen

Während ihrer Gültigkeit wurde die Verfassung zehnmal geändert. Die erste Reform wurde 1943 durchgeführt: Die ausschließliche Initiative der Exekutive in Ausgabenfragen wurde erweitert, die «Contraloría General de la República» (Rechnungshof) als Verfassungsorgan geschaffen und der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Ausgaben gestärkt. 1957 wurden Reformen in Bezug auf die Staatsangehörigkeit aufgenommen und 1959 die Dauer des Mandats der Gemeinderatsmitglieder. Während der Präsidentschaft von Jorge Alessandri wurde 1963 eine Verfassungsreform über das Eigentumsrecht verabschiedet, die den Beginn des Agrarreformprozesses ermöglichte.

Während der Präsidentschaft von Eduardo Frei Montalva wurden vier Reformen durchgeführt. Die ersten beiden im Jahr 1967 betrafen Eigentumsrechte und die Zunahme der Zahl der Senatswahlkreise, in denen 50 Senatoren gewählt wurden. Die Hauptaspekte der Reform von 1970 sind die Ausweitung der ausschließlichen Gesetzesinitiative der Exekutive in Wirtschaftsfragen und die Gewährung des Stimmrechts für Personen über 18 Jahre, so dass auch wer nicht lesen und schreiben konnte, wählen durfte. Diese Reform bezieht auch das Verfassungsgericht in das chilenische Rechtssystem ein. Ihr Hauptzweck ist es, eine vorbeugende Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzentwürfe durchzuführen, das heißt, bevor das Gesetz verkündet wurde.

Der «Estatuto de Garantías» war Teil der Reform von 1971. Als Salvador Allende in der Präsidentschaftswahl von 1970 nur die relative Mehrheit erlangte, musste er dem «Estatuto de Garantías» zustimmen, um vom Plenarkongress als Präsident der Republik bestätigt zu werden. Laut dem Statut war die Regierung der «Unidad Popular» verpflichtet, unter anderem die freie Ausübung politischer Rechte, die Vereinigung in politischen Parteien, die Meinungsfreiheit, das Recht auf demokratische und pluralistische Bildung zu gewährleisten.

Die letzte Reform der Verfassung von 1925 wurde 1971 durchgeführt und sollte es dem Staat ermöglichen, natürliche Ressourcen und Produktionsgüter zu verstaatlichen, wenn das nationale Interesse dies erforderte. Gleichzeitig wurde das Bergbaurecht geändert und die großen Kupferbergbauunternehmen verstaatlicht.

Mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 wurde die Gültigkeit der Verfassung von 1925 de facto beendet, obwohl ein offizieller Teil davon in Kraft blieb.

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