«Hier stehe ich, ich kann nicht anders!»
Ein Spektakel muss es gewesen sein: Die beschauliche Bischofsstadt Worms mit ihren 7.000 Einwohnern wird kurz zum Nabel der damaligen westlichen Welt. Kaiser Karl V. beruft im Frühling 1521 den Reichstag dorthin ein.
Auf dieser Zusammenkunft der Mächtigen des Reiches werden die Fragen der Regionen besprochen und Zukunftsstrategien für politische Vorhaben beschlossen. Mehr als 10.000 Menschen kommen in der Stadt zusammen. Fürsten, Grafen, Botschafter und Abgesandte aus ganz Europa mitsamt Gefolge, Räten, Geistlichen, Rittern und Dienern. Dazu kamen Händler, Schausteller und Prostituierte, die ebenfalls anreisten.
Von Wittenberg nach Worms
Der junge Kaiser – gerade 19 Jahre alt – hat sich die Sache dennoch anders vorgestellt: Er will eigentlich so schnell wie möglich zurück nach Spanien, um den Krieg gegen den König von Frankreich zu organisieren. Zudem spricht er kein Deutsch und ist darüber hinaus wenig vertraut mit den Problemen und Fragen des Reichs. Wie ermüdend war es wohl für Karl, dass nach der Eröffnung am 27. Januar 1521 vier Monate lang diskutiert und gerungen wird – anfangs vor allem um Protokollfragen.
Der Mönch Martin Luther, der unter der Stadtbevölkerung schon längst Gesprächsthema Nummer eins war, steht überhaupt nicht auf der Tagesordnung. 1517 hatte er mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen gegen den Ablasshandel einen Nerv getroffen. In der Folge baute er anhand der Diskussionen mit seinen Gegnern seine Position weiter aus.
Sein Verständnis der Sakramente Abendmahl und Taufe wird dadurch geschärft: Nicht der menschliche Akt und die kirchliche Vermittlung, sondern Gottes eigenes Handeln in seiner Verheißung der Gnade treten in den Vordergrund. Diese Gedanken münden eben in den drei großen Schriften von 1520: «An den christlichen Adel deutscher Nation», «Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche» und «Von der Freiheit eines Christenmenschen». Die drei Schriften bilden innerhalb der Theologie Luthers einen ersten Höhepunkt.
Aufgrund dieser Schriften war über ihn bereits im Januar 1521 von Papst Leo X. der Kirchenbann ausgesprochen worden. Es ist ein Umstand, der ihn als Ketzer brandmarkte und der tödlich für Luther hätte enden können. Seit einiger Zeit jedoch stand sogar Ketzern ein Verfahren zu. Zur weltlichen Verfolgung hätte dabei dann die Reichsacht ausgesprochen werden müssen – vom Kaiser selbst.
Mit bereits genug anderen Fragen behelligt, will Karl den Aufrührer eigentlich in dessen Abwesenheit verurteilen und damit die Causa Luther ein für alle Mal vom Tisch schaffen. Luthers Fürsprecher Kurfürst Friedrich dem Weisen gelingt es jedoch, den jungen Kaiser nach einigem Verhandeln davon zu überzeugen, Luther doch noch anzuhören.
So reist der populäre Mönch von Wittenberg ins ferne Worms. Schon in den Tagen vor seiner Ankunft werden seine Flugschriften reichlich in der Stadt verteilt. Der päpstliche Gesandte beschwert sich gar: «Täglich regnet es lutherische Schriften in deutscher und lateinischer Sprache.» Es werde «gar nichts anderes verkauft als Schriften Luthers». Unterwegs lässt Luther es sich jedoch nicht nehmen, an diversen Stationen wie Erfurt, Gotha oder Eisenach zu predigen. In Worms selbst wird er von der Bevölkerung begeistert empfangen.
Nicht «wider das Gewissen»
Am 17. April ist es soweit. Der Kaiser ist bereit, Luther zu empfangen. Nicht jedoch vor dem Reichstag selbst, sondern im Bischofshof, wo der Kaiser logiert. Karl V. will die Angelegenheit lieber ruhig und mit wenig Öffentlichkeit verhandeln.
Eine reine Formsache soll es werden: Der Beschuldigte solle seine Schriften und die darin enthaltenen Thesen zurücknehmen und widerrufen. Johann von Eck, katholischer Theologe und einer der schärfsten Kritiker Luthers berät Karl und hält eine eindringliche Rede, um Luther vom Widerruf zu überzeugen.
Luther ist in Bedrängnis, weiß er doch, was ihm blühen würde, sollte er der Aufforderung des Kaisers nicht nachkommen. Eigentlich hatte er in ihm einen potenziellen Verbündeten gesehen und dachte, es könne eine sachliche Debatte über den Inhalt seiner Thesen stattfinden. Überrumpelt erbittet er sich Bedenkzeit, denn er möchte sichergehen, dass «ich ohne Gefahr für meine Seligkeit auf die Frage richtig antworte». – Man gewährt ihm 24 Stunden.
Am nächsten Abend hält Luther vor dem Kaiser eine flammende Rede. Seine Schriften müssten differenziert werden, fordert er: Die einen seien sogar von seinen Gegnern anerkannt und befürwortet, andere übten auf Grundlage der Heiligen Schrift Kritik an Kirchenpolitik und Papsttum, wieder andere seien gegen Einzelpersonen gerichtet – hier gebe er zu, sich ab und an im Ton vergriffen zu haben. Widerrufen aber will er keine einzige, «wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde». Papst und Konzilien hätten schon oft geirrt – der Verweis auf sie allein genüge nicht.
«Ich kann und will nicht widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun. […] Gott helfe mir. Amen.»
Der Kaiser ist erzürnt, als sein Dolmetscher übersetzt und unterbricht die Verhandlung. Er fährt Luther an: «Denn es ist sicher, dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird, steht. Deshalb bin ich fest entschlossen, an diese Sache meine Reiche und Herrschaften, mein Leib, mein Blut und meine Seele zu setzen.»
Schon am 19. April lässt Kaiser verlautbaren, dass Luther zwar freies Geleit für die Rückreise erhalte, er aber sodann mit der Reichsacht belegt und für vogelfrei erklärt würde. Am 26. April, nach zehn Tagen, verlässt Luther Worms auf Befehl des Kaisers. Nach seiner Abreise wird umgehend das Wormser Edikt des Kaisers rechtskräftig, das seine Verurteilung bestätigt.
Kurfürst Friedrich der Weise lässt Luther zu seinem Schutz auf der Reise zum Schein entführen und auf die Wartburg bringen, wo er ein Jahr unter falscher Identität als Junker Jörg lebt.
«Das unerschrockene Wort»
An der Stelle, an der Luther in Worms standhaft blieb und Kaiser, Fürsten und Theologen – den unumstößlichen Autoritäten dieser Zeit – die Stirn bot, erinnert heute eine Platte im Boden an das Ereignis. Wegen seines mutigen Bekenntnisses verleihen seit 1996 die Lutherstädte alle zwei Jahre den Preis «Das unerschrockene Wort». Ausgezeichnet werden Frauen und Männer, die bereit sind «für unerschrockenes Auftreten Unbill in Kauf zu nehmen». So wie seinerzeit Martin Luther, der sich 1521 während des Reichstags zu Worms vor Kaiser Karl V. für seine innere Überzeugung verantworten musste.
2021 wurden damit beispielsweise Weronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa ausgezeichnet. Die Weißrussinnen entfachten eine Protestwelle gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko. Inzwischen musste Zepkalo nach Polen fliehen, Tichanowskaja befindet sich im Exil in Litauen, Kolesnikowa wurde inhaftiert. Mit dem Preis wollen die Lutherstädte die Entschlossenheit, das mutige Auftreten und den friedlichen Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung honorieren.
Das Datum der lutherischen Standhaftigkeit auf dem Reichstag zu Worms jährt sich am 18. April diesen Jahres zum 500. Mal. Die davon ausgehende Botschaft ist aktuell wie nie:
«Hier stehe ich, ich kann nicht anders!»
Auch wenn er den Satz so wohl nie gesagt hat, drückt er doch Luthers integre Überzeugung aus: sich nur durch eine sachliche Debatte mit fundierten Argumenten überzeugen zu lassen. Sie kann in Zeiten von Fake News, Verschwörungserzählungen und schwindender Gesprächsbereitschaft gerade heute eine wichtige Erinnerung sein.