Eine junge Republik probiert sich aus
Das Jahrzehnt nach dem Unabhängigkeitsprozess war durch große institutionelle Instabilität gekennzeichnet. Daher haben sich die Chilenen nach ihrer Unabhängigkeit mehrmals eine neue Verfassung gegeben, um das politische Leben der aufstrebenden Republik zu ordnen.
Doch bereits bevor Chile eine unabhängige Nation wurde, formulierten die führenden Gruppen Verfassungsbestimmungen für das Land, die einen grundlegenden institutionellen Rahmen schufen. Dies waren die Verfassungsbestimmungen von 1811, 1812 und 1814, die infolge der Konflikte zwischen den nationalen Fraktionen und dem Beginn des Unabhängigkeitskrieges nur eine kurze Gültigkeitsdauer hatten.
Nach der Gründung der «Primera Junta Nacional de Gobierno» am 18. September 1810, wurde die erste Verfassungsverordnung erlassen: der «Reglamento para el Arreglo de la Autoridad Provisoria» von 1811. Mit der Verordnung wurde eine kollegiale Exekutive mit drei Mitgliedern und ein Einkammer-Kongress eingerichtet. Die Verfassung sah zwar eine Gewaltenteilung vor, die jedoch nicht die Befugnisse der Legislative, Exekutive und Judikative eindeutig regelte. Nachdem die Verfassung gerade drei Monate gültig war, setzte der Militärputsch von José Miguel Carrera ihr wieder ein Ende.
Das Reglement «Constitucional Provisorio» von 1812 wurde erlassen, um der Regierung von José Miguel Carrera einen institutionellen Rahmen zu geben. Der Konsul der Vereinigten Staaten, Robert Poinsett, spielte dabei eine maßgebende Rolle. Eine lange Präambel ging einem kurzen Text von 27 Artikeln voraus. Darin ist erneut eine aus drei Personen bestehende Kollegialleitung und eine Einkammer-Legislative verankert. Obwohl der spanische König Fernando VII. als Monarch anerkannt wird, enthielt der Text eine versteckte Unabhängigkeitserklärung. In dieser heißt es, dass «kein Dekret, keine Vorsehung oder Anordnung, die von einer Behörde oder einem Gericht außerhalb des Hoheitsgebiets Chiles ausgeht, irgendeine Wirkung haben wird».
Das dritte Dokument der «Patria Vieja» war der «Reglamento Constitucional Provisorio» von 1814. Dieses schuf das Amt des Obersten Direktors (Director Supremo) mit weitreichenden Befugnissen, denn der Unabhängigkeitskrieg hatte gezeigt, dass eine kollegiale Exekutive nicht funktionierte. Die Niederlage in der Schlacht von Rancagua und die damit verbundene Wiederherstellung der alten Ordnung durch die Spanier bedeuteten das Ende dieses Reglements.
Die Verfassungen O´Higgins im Jahr 1818 und 1822
Mit der nationalen Unabhängigkeit zu Beginn des Jahres 1818 begann für Chile eine neue Etappe: die «Patria Nueva». Nachdem die Unabhängigkeit durch den Sieg in der Schlacht von Maipú gesichert war, ernannte der Oberste Direktor Bernardo O’Higgins eine konstituierende Kommission zur Ausarbeitung eines Verfassungstextes. Das «Proyecto de Constitución Provisoria» von 1818 wurde verkündet, nachdem eine nationale Volksabstimmung (zwischen Atacama und Maule) diesen weitgehend genehmigt hatte.
Die Verfassung von 1828 entstand in der Zeit der großen Unruhen von 1823 bis 1830 – nach der Abdankung von Bernardo O´Higgins.
Juan Egaña (1769-1836), deutsch-peruanischer Politiker, Jurist und Schriftsteller
Diese erste Verfassung unseres Landes enthält das Prinzip der nationalen Souveränität: Die Nation ist befugt, ihre Regierung einzusetzen und Gesetze zu erlassen. Der Text verankert Menschenrechte der ersten Generation (Gleichheit vor dem Gesetz, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit) und ratifiziert das 1811 erlassene Gesetz der «libertad de vientres». Dieses legte fest, dass alle Söhne und Töchter von Sklaven, die in Chile geboren wurden, automatisch bei der Geburt frei waren.
Die Exekutivgewalt wurde vom Obersten Direktor mit weitreichenden Befugnissen ausgeübt. Die Legislative bestand aus einem fünfköpfigen Senat, der vom Obersten Direktor ernannt wurde. Trotz dieser Tatsache erfüllte der Senat seine Funktion, die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze zu gewährleisten, angemessen und bildete ein wirksames Gegengewicht zu der diktatorischen Exekutive.
Die autokratische O’Higgins-Regierung führte zu Konflikten mit der Aristokratie und der Kirche, was eine neue Verfassung zur Folge hatte. Die Verfassung von 1822 sieht vor, dass «die chilenische Regierung immer repräsentativ sein wird und sich aus drei unabhängigen Mächten zusammensetzt: Legislative, Exekutive und Judikative». Diese Verfassung sieht zum ersten Mal in unserer Geschichte eine Zweikammer-Legislative vor, die sich aus einer Abgeordnetenkammer und einem Senat zusammensetzt. Die Abgeordneten wurden indirekt gewählt. Dagegen wurde der Senat nicht gewählt, sondern setzte sich aus verschiedenen Vertretern des politischen, religiösen, juristischen, akademischen und wirtschaftlichen Bereichs zusammen.
Die Exekutivgewalt lag beim Obersten Direktor, «immer wählbar und nie erblich». Er war sechs Jahre im Amt und konnte für weitere vier Jahre wiedergewählt werden. Die Möglichkeit einer zehnjährigen Regierung wie die von O´Higgins stieß auf Widerstand bei der Aristokratie. Im Januar 1823 war er zur Abdankung gezwungen worden.
Zeit des Bürgerkriegs
Von der Abdankung von O’Higgins bis zur Schlacht von Lircay im April 1830 erlebte das Land eine Zeit der Anarchie, war Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen «Pelucones» (Konservativen) und «Pipiolos» (Liberalen). Die wichtigsten neuen Grundgesetze dieser Zeit waren die Verfassung von 1823, die Bundesgesetze von 1826 und die Verfassung von 1828.
Die Verfassung von 1823 wird nach der Abdankung von O’Higgins verkündet. Es handelte sich um ein Werk von Juan Egaña. Es zeigte sich allerdings, dass es unmöglich war, sie in die Praxis umzusetzen. Zum Beispiel war vorgesehen, das private Verhalten der Bürger zu regulieren und sogar wertzuschätzen. Aufgrund dieser Vermischung der politischen, moralischen und religiösen Ordnung wurde sie als «constitución moralista» von Egaña bekannt und bereits im Januar 1825 als ungültig erklärt.
Die ineffiziente und schwache Zentralregierung förderte das Streben der Provinzen nach mehr Autonomie. Die Bundesgesetze von 1826 hatten das Land in acht Provinzen aufgeteilt, die eigene Versammlungen abhalten und von einem von den jeweiligen Gemeinden ernannten Regional-Oberhaupt reagiert werden sollten. Dieses föderalistische System konnte aber nicht umgesetzt werden, da die Ressourcen der Provinzen zu knapp waren und der Exekutive keine angemessenen Befugnisse eingeräumt wurden.
Das Scheitern des föderalistischen Experiments förderte das Chaos im Land. Im Jahr 1828 wurde ein konstituierender Kongress gebildet und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine Kommission ernannt, die der spanische liberale Schriftsteller José Joaquín de Mora leitete.
Die «liberale» Verfassung von 1828 wurde im August desselben Jahres verkündet. Sie sollte dem föderalistischen System und dem von einigen Konservativen angestrebten autoritären, zentralen Staat gerecht werden. Zum ersten Mal wird in einer Verfassung das Amt des Präsidenten der Republik und das des Vizepräsidenten aufgeführt.
Die gesetzgebende Gewalt bestand aus zwei Kammern: dem Senat und der Abgeordnetenkammer. Die Justizbehörde setzte sich aus vom Kongress ernannten Ministern des Obersten Gerichtshofs und von der Exekutive ernannten Richtern zusammen. Diese Verfassung war allen vorherigen überlegen, obwohl sie genauso wenig die soziale und kulturelle Realität des Landes beachtete. In jedem Fall waren ihre wesentlichen Bestimmungen die Grundlage für die Verfassung von 1833.
Konflikte im Zusammenhang mit der Wahl des Vizepräsidenten durch den Kongress provozierte die Revolution von 1829. Die konservativen Kräfte siegten in der Schlacht von Lircay im April 1830 und bereiteten das Ende der liberalen Vorherrschaft der Pipiolos.