Oberstaatsanwalt Thomas Will, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, in der Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg Eine Karteikarte mit dem Verweis auf den ehemaligen KZ-Aufseher Demjanjuk, der 2011 wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen verurteilt wurde
Wie eine Trutzburg wirkt das Haus am Rand des schmucken Ludwigsburger Schlossviertels. Von dem früheren Frauengefängnis aus werden die Verbrechen der Nazis ermittelt. Ein Wettlauf gegen die Zeit.
Ludwigsburg (dpa) – Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte steht säuberlich aufgeteilt auf gelben Karteikärtchen. Alphabetisch geordnet nach Namen und Orten des Schreckens und archiviert in den Registrierkästen und Dutzenden Rollschubladen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Ein Ort des archivierten Grauens, aber auch eine Stätte der Befreiung und der Rechtsgeschichte. Nun nehmen die NS-Experten neue Gruppen in den Blick.
«Wir müssen auf Sicht fahren»
«Moment, hier haben wir ihn», sagt Thomas Will, der Leiter des Hauses, greift geschickt in den Kasten mit der Aufschrift «Danh-Desz» und zieht eine kleine Klarsichthülle mit beschrifteten Karten heraus. «Demjanjuk», steht darauf, ein paar Orte werden noch erwähnt, Jahreszahlen und die Vorwürfe gegen den einstigen Wachmann des deutschen Vernichtungslagers Sobibor in Polen, der 2011 verurteilt wurde, ohne dass ihm eine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. Ein Impuls, ein Paukenschlag auch in der deutschen Justizgeschichte. Ergänzt mit Schreibmaschine auf der Karteikarte: das Todesdatum.
Denn John Demjanjuk lebt nicht mehr. Und das gilt auch für die weitaus meisten Menschen, die sich hinter den Namen auf den insgesamt 1,75 Millionen Karten verbergen. Die Arbeit des 21-köpfigen Teams von Will ist mehr denn je ein Rennen gegen die Zeit und gegen biologische Grenzen. Die Ermittler, Staatsanwälte, Richter, sie alle wissen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie ihre letzte Akte schließen müssen, weil sie alle Verdächtigen überlebt haben. «Die Zen- trale Stelle wird ihre Arbeit erst einstellen, wenn niemand mehr am Leben ist, gegen den man ermitteln könnte», sagt Will. Wann das sei? «Wir müssen auf Sicht fahren. Ich sehe ein Ende, aber ich sehe dieses Ende jedenfalls in den beiden kommenden Jahren noch nicht.»
Elf Ermittlungsverfahren
Vor mehr als 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg und nach wie vor arbeitet die Justiz die damaligen deutschen Verbrechen ab. Im vergangenen Sommer verurteilte das Hamburger Landgericht einen früheren Wachmann im Konzentrationslager Stutthof rechtskräftig, über weitere Verfahren wird derzeit entschieden.
Allerdings geht die Zahl der bundesweiten Ermittlungen gegen Beschuldigte zurück, denen Verbrechen während der NS-Herrschaft in Konzentrationslagern vorgeworfen werden. Beschuldigte sind zu alt, sie sind verhandlungsunfähig oder sterben, bevor ihre Akte übergeben werden kann. Derzeit sind nach Angaben der Zentralen Stelle neben drei Angeklagten in Wuppertal, Itzehoe und Neuruppin noch acht weitere Ermittlungsverfahren bei deutschen Staatsanwaltschaften anhängig, darunter in München, Hamburg und Erfurt. Acht weitere ehemalige Angehörige von Konzentrationslagern sind ermittelt. Es wird geprüft, ob ihre Fälle an die Anklagebehörden abgegeben werden.
Auch Dienstausübung strafbar
Für Schlagzeilen hatte vor kurzem vor allem die Anklage gegen einen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord gesorgt. Der 100 Jahre alte und nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft verhandlungsfähige Mann soll von 1942 bis 1945 im KZ Sachsenhausen nahe Berlin bei der grausamen Ermordung von Lagerinsassen geholfen haben.
Den Weg für den Prozess hatte das Urteil gegen Demjanjuk geebnet. Während zuvor nur diejenigen verfolgt worden waren, die zur Leitung der Konzentrationslager gehört oder selbst gemordet hatten oder durch besondere Grausamkeit aufgefallen waren, besteht die Justiz seither nicht mehr auf den oft unmöglichen Nachweis einer konkreten Tathandlung. Auch die allgemeine Dienstausübung in einem Lager, in dem erkennbar systematische Massenmorde stattfanden, kann juristisch geahndet werden. Allerdings ist offen, ob es in Neuruppin zur Verhandlung kommt.
Für Thomas Will spielt das Alter eines Angeklagten allerdings auch keine wesentliche Rolle. «Wir sind rechtsstaatlich gebunden», sagt er. «Wenn er die Taten begangen hat oder wenn zumindest der Anfangsverdacht gegeben ist, dann braucht es kein Mitleid, dann wird das einfach aufgeklärt.»
Das gilt auch für einen Bereich, den die Mitarbeiter der Bundesländer-übergreifenden Ermittlergruppe erst jetzt für ihre Arbeit entdecken. Auch mögliche Straftaten von Soldaten der Wehrmacht gegen insbesondere sowjetische Kriegsgefangene sollen nun ein juristisches Nachspiel haben. «Wir haben geprüft, ob wir die Rechtsprechung auch auf die Kriegsgefangenlager der Wehrmacht erweitern können, etwa die sogenannten Stammlager, abgekürzt Stalags», sagt Will. «Auch dort hat es verheerende Lebensumstände gegeben und unglaublich hohe Todeszahlen.»
Die neue Sicht der Juristen seit dem Demjanjuk-Urteil sei «vollständig übertragbar». Insgesamt überprüft die Behörde derzeit sieben frühere Soldaten wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord. Sie sollen einige der Lager bewacht haben, in denen insgesamt bis zu 3,3 Millionen der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben. «In unserer Zentralkartei befinden sich etwa 250 Lager mit Informationen zu den Wachleuten, die dort eingesetzt waren», sagt Will, der die Behörde seit dem vergangenen Oktober leitet.
Das soll aber nicht alles gewesen sein: Denn die Rechtsprechung könnte auch für die Einsatzgruppen gelten, die als mobile Mordkommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes nach dem Einmarsch deutscher Truppen vor allem in Polen und später in der Sowjetunion planmäßige Massaker verübt haben. Weit über eine halbe Million Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Kommunisten und Intellektuelle fielen den als «Sonderbehandlung» kaschierten Massenerschießungen damals zum Opfer. «Dem Blick auf einen erweiterten Täterkreis kann man sich nicht verschließen. », sagte Will.