Dezentralisieren, sichtbar werden, Gemeinschaft schaffen
Von Walter Krumbach
Die aktive, sympathische Frau kennt sich wie wenige im Kulturleben Chiles aus. Als Leiterin der FOJI ist sie nicht nur darum bemüht, Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen durch die Musik eine bessere Welt zu eröffnen, sondern auch den jungen Künstlern die internationale Kunstszene zu erschließen.
Im März des Jahres 2018 übernahm sie die Leitung der Jugend- und Kinderorchesterstiftung. Der ehrenvolle Auftrag kam von keiner geringeren als von Cecilia Morel de Piñera, die als Präsidentin der Stiftung fungiert. Die Einladung der First Lady bezog sich nicht nur auf die Fundación de Orquestas Juveniles e Infantiles (FOJI), sondern es ging auch darum, andere Aufgaben wahrzunehmen wie zum Beispiel den Vorsitz des Kulturzentrums Gabriela Mistral.
Die von Fernando Rosas gegründete Stiftung feiert im Mai dieses Jahres ihren 20. Geburtstag. In jenem Zeitraum wuchs die Anzahl dieser Ensembles explosionsartig. Heute sind es landesweit 18, die der Leitung Alejandra Kantors unmittelbar unterstehen und weitere 500, die von der FOJI unterstützt werden.
Am Tag ihres Antritts traf eine Einladung für das Nationaljugendorchester ein, um auf verschiedenen europäischen Bühnen aufzutreten. Zusätzlich lud die marokkanische Botschaft die Chilenen ein, um in diesem afrikanischen Königreich zu musizieren, «sodass die Tournee in Marokko begann und das Orchester danach in Berlin, Kassel und im Escorial, wo die spanischen Könige begraben sind, gespielt haben.»
Im Jahr 2018 verstarb José Antonio Abreu, der Gründer des «Sistema» genannten venezolanischen Vorbildes der Kinder- und Jugendorchester. Sein prominentester Schüler, der inzwischen weltberühmte Dirigent Gustavo Dudamel, der im März jenes Jahres mit den Wiener Philharmonikern im Santiaguiner «Municipal» einen vielbeachteten Musikabend gegeben hatte, entschied, in Chile ein Konzert zu Ehren für seinen Meister zu veranstalten. Er machte auf verschiedenen Kontinenten gute und begabte Musiker ausfindig, brachte sie nach Chile, um mit dem chilenischen Nationaljugendorchester zusammen aufzutreten. «Es war für unsere jungen Musiker eine äußerst interessante Erfahrung, von Dudamel dirigiert zu werden», betont Alejandra Kantor.
Damals bereitete sie für das Jahr 2019 eine weitere Tournee nach Marokko, Deutschland und Spanien vor. 21 Tage waren die 80 jungen Musiker unterwegs, um ein weiteres Mal im Ausland ihr Können zu zeigen. «Seitdem habe ich mich darum bemüht, unser System zu dezentralisieren», versichert sie, «die Regionalorchester, ihre Mitarbeiter und die kommunalen Ensembles zu unterstützen, und darauf geachtet, dass die FOJI so viel Präsenz im Rest Chiles zeigt, wie es in der Región Metropolitana der Fall ist.»
Um dem FOJI-Orchester beitreten zu können, muss sich jeder Kandidat bewerben. Das hat eine ständige Veränderung des Orchesters zufolge: Jährlich wechseln etwa 30 Prozent der Musiker in den verschiedenen Ensembles. Den 18 Orchestern gehören rund 1.000 Kinder und Jugendliche an, «von denen die meisten in sehr schwierigen sozialen Verhältnissen leben», stellt Alejandra Kantor fest, «die Mehrzahl wird jedoch von den Eltern unterstützt, was diesen Kindern ermöglicht hat, in so schweren Jahren wie 2020 vorwärtszukommen.»
Zum anderen unterstützt die FOJI die 500 Kommunalorchester, denen 25.000 Kinder und Jugendliche angehören. «Das muss man einmal nachvollziehen: 25.000 Kinder spielen in Chile ein Instrument und gehören einem Orchester an», sagt sie voller Stolz. Es ist für die Beteiligten weit mehr als eine künstlerische Betätigung: «Sie haben da eine Familie, einen Sicherheitsraum. Und einen Grund stolz auf sich selbst zu sein, da sie an Konzerten und Tourneen teilnehmen.»
Alejandra Kantor ist davon überzeugt, dass die Zahl der musizierenden Kinder weiter zunehmen wird, «besonders, weil wir mehr Dezentralisierung eingeführt haben». Zweitens glaubt sie, dass diese Arbeit «sichtbar gemacht werden muss, dass darüber mehr in der Presse und in den sozialen Netzwerken veröffentlicht werden muss». Und «unsere dritte Säule heißt Gemeinschaft schaffen. Sie entsteht durch die Zusammenarbeit der Kinder, ihrer Lehrer, den Dirigenten und den Mitarbeitern der Stiftung».
Eine besondere Herausforderung im 20. Gründungsjahr der FOJI ist der bevorstehende Umzug der Stiftung in die Räumlichkeiten von Televisión Nacional. Der Arbeitsplatz im Gebäude des wichtigsten Fernsehsenders landesweit «wird eine starke Wirkung auf alle Beteiligten haben», glaubt sie.
Alejandra Kantor ist der deutschen Kultur und Lebensweise eng verbunden. Ihre drei Kinder sind in Deutschland geboren und ihre Leidenschaft für Richard Wagners Musik hat sie dazu bewogen, bei der Gründung der Fundación Richard Wagner de Chile aktiv teilzunehmen (siehe Seite 7 dieser Ausgabe). Seit 25 Jahren – nach ihrer Rückkehr aus Deutschland – engagiert sie sich für die Kultur in Chile. Im Jahr 2016 zeichnete sie der Deutsch-Chilenische Bund für ihre Verdienste im Musikbereich mit der Artur-Junge-Medaille aus.
Heute, nach ihrer langjährigen Erfahrung auf diesem Gebiet, zeigt sie sich besonders von der sozialen Mobilität beeindruckt. Damit meint sie, «wie zum Beispiel ein Musikinstrument das hoffnungslose Leben eines jungen Menschen völlig verändern kann. Daher sehe ich meine Zukunft weiterhin in der Kultur-, aber auch in der Sozialarbeit. Die Kultur, weil ich mich darin auskenne, und das Soziale, weil es mich in höchstem Maße motiviert».