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Jaime Estay bringt Maquipulver und Merkén nach Kassel

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Von Silvia Kählert

Die seit etwa den 1850er Jahren eingewanderten Deutschen, Schweizer und Österreicher haben Chile in mancherlei Hinsicht geprägt. Doch wie geht es Chilenen, die heutzutage in ein deutschsprachiges Land ziehen? Ist es ein Kulturschock oder entdecken sie kulturelle Ähnlichkeiten mit ihrem Land? Der Cóndor stellt in loser Reihenfolge Chilenen vor, die seit einiger Zeit in einem deutschsprachigen Land leben. Im ersten Beitrag geht es um Jaime Estay, der vor einem halben Jahr einen beruflichen Neuanfang wagte.

Der Santiaguino ist Mitgründer des Ladens «Sterna Butikken» in Kassel. Dorthin zog er 2016 mit seiner deutschen Frau Hanna Behrmann und seinen drei Kindern nach sechs Jahren in Norwegen und drei in Spanien.

Nun haben dem Betriebswirt seine Kontakte in Skandinavien, Chile und Deutschland beim neuen Projekt geholfen. Vor allem seine Geschäftspartnerin Tina Mehren, die er vor 17 Jahren in Chile kennenlernte und in der nordhessischen Stadt wiedergetroffen hat. Die Bürokauffrau war 2003 mit ihrem Mann für drei Jahre nach Chile gezogen und ihre beiden Söhne sind in Santiago geboren. Genau wie Jaime Estay war sie auf der Suche nach einem beruflichen Neuanfang.

Der Chilene war viele Jahre in der Bergbauindustrie tätig gewesen und hatte seine Firma in Norwegen verkauft. Im gemeinsamen Gespräch entwickelten beide ihre Geschäftsidee von «Sterna Butikken». Der Name und das Vogel-Logo sagen auch etwas über die Produkte aus: Sterna steht für Seeschwalben, Vögel, die es auch in Chile gibt und die tausende von Kilometer um die Erde fliegen können; Butikken heißt auf Norwegisch «der Laden». 

Wichtig ist für Jaime Estay und Tina Mehren vor allem: «Wir wollen natürliche und biologische Produkte anbieten, die es hier noch nicht gibt, und die Familienbetriebe oder kleine Firmen selbst herstellen.» In Chile sind es Familien auf Chiloé, deren Produkte Maqui-, Murta- und Hagebuttenpulver sowie schwarzer fermentierter Knoblauch nun in Kassel angeboten werden. Die Pullover werden in Patagonien hergestellt. Beim Avocadoöl ist den Ladenbesitzern wichtig, dass es aus dem Süden Chiles kommt, wo das Problem der Bodenaustrocknung noch nicht besteht. Der Carignan-Wein aus Lolol im Colchagua-Tal ist handgepflückt und aus der Carignan-Traube, die auf dem einzigen wildwachsenden Weinberg weltweit stammt. 

Dennoch sei es ein riesiger Kraftakt gewesen, die bürokratischen Hürden in der Pandemie zu überwinden, erzählt Jaime: «Im März erstanden wir das Ladenlokal, im September schließlich wurde die Firma im Handelsregister eingetragen und schließlich nebenbei noch die Internetseite für den Online-Verkauf entwickelt.» Besonders schwierig sei der Import der Waren. 

Das große Interesse der Kunden vor dem Lockdown stimmt beide aber positiv, denn Jaime stellt fest: «Viele kommen wieder und sagen, dass ihnen die gute Qualität und die Herstellung durch kleine Produzenten gefällt.»

Zwar hat Jaime Estay erst richtig bei seinem Umzug nach Kassel begonnen, Deutsch zu lernen: «Mit meiner Frau habe ich immer Spanisch gesprochen.» Dennoch hat er sich gut eingelebt. Ein Grund sei, dass er und seine Familie aufgrund der eigenen Umzüge offen für andere Kulturen seien: Vor sechs Jahren ist im norwegischen Stavanger Tochter Adda geboren, der dreizehnjährige Leo kam in Spanien und der 16-jährige Simon in Chile zur Welt. Und umgekehrt hat er die Erfahrung gemacht: «Deutschland ist multikulti und viele Menschen offen– das hat es mir hier leichter gemacht.»

«Trotz der Sprachbarrieren gute Freunde gefunden»

Was hat Sie in Deutschland besonders erstaunt oder überrascht?

Da meine Frau Deutsche ist, reise ich schon seit über 20 Jahren regelmäßig nach Deutschland. Ich war dennoch erstaunt, wie schnell wir nach dem Umzug mit vielen Leuten in Kontakt kamen und ich trotz der Sprachbarrieren gute Freunde gefunden habe. Für uns als Familie ist es einfacher, wenn wir entweder in Chile oder in Deutschland leben, da zumindest einer von uns beiden Einheimischer ist und somit dem anderen Kultur, Humor und so weiter näherbringen kann.

Die andere Sache, die mich von Anfang überrascht hat, ist die Selbstständigkeit der Menschen: Hier kümmert man sich selbst um die Hausarbeit und den Garten. Man muss lernen, sich selbst zu versorgen, anstatt sich auf fremde Hilfe zu verlassen, wie es in Chile häufig der Fall ist.

Was gefällt Ihnen persönlich besonders in Deutschland?

Es gefällt mir, dass es in Deutschland eine große Mittelschicht gibt. Soziale Unterschiede sind nicht so stark sichtbar wie in Chile. Die Menschen sind direkt, sehr offen und interessiert. Mir gefällt, dass die Regeln respektiert werden. Dies kann allerdings im Geschäftlichen leicht zu Bürokratie führen, da alles sehr genau genommen wird und manchmal die Flexibilität fehlt. Das Gute ist, dass wenn ein Problem auftritt, Lösungen gesucht werden und man seinem Gegenüber vertraut. 

Was mir auch gefällt, ist, dass den meisten Menschen der Schutz der Umwelt wichtig ist. Unabhängig von ihrer politischen Überzeugung sind sie sich der Problematik des Klimawandels bewusst. In unserem Geschäft fragen viele Kunden, wer die Wolle verarbeitet und auf welche Art und Weise, ob die Tiere gut versorgt werden, warum eine Verpackung aus Plastik und nicht aus Glas ist und so weiter.

Zu guter Letzt die Lebensqualität in Kassel, einer Stadt von 200.000 Einwohnern: die Ruhe, die Sicherheit, der nicht allzu starke Verkehr. Meine Kinder gehen allein zur Schule, zum Training, zu ihren Freunden. 

An was können Sie sich schwer gewöhnen?

Obwohl mein Deutsch bisher nur ein mittleres Niveau hat, sprechen die Leute mit mir so schnell, als ob ich Muttersprachler wäre. Dadurch verliere ich manchmal den Faden und antworte falsch auf Fragen. Ich empfinde Deutschland als weniger kinderfreundlich als zum Beispiel Spanien oder Italien. Früher waren vor allem die älteren Leute unfreundlich zu Kindern. Heute finde ich, dass die jüngere Generation toleranter ist, daher stört es mich nicht mehr.

Welchen Ratschlag würden Sie einem Chilenen/einer Chilenin geben, der beziehungsweise die nach Deutschland zieht?

Das Wichtigste ist die Sprache. Auch wenn man an einer Universität einen englischsprachigen Studiengang studiert, ist Deutsch im Alltag notwendig. Wenn man hier arbeitet, ist es wichtig, ein mittleres Niveau, mindestens B1, zu beherrschen und dann die Sprachkenntnisse im Land zu verbessern. Denn wie man in Großbritannien sagt: «Life is too short to learn German».

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