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Mehr als nur ein Nachruf: Die MS Astor – die «kleine weiße Lady»

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Von Frank Müller und Matthias Müller

Die 1987 erbaute MS Astor war ein relativ kleines Kreuzfahrtschiff für maximal 578 Gäste.

Zwei Mal ertönt das Typhon laut und lang an jenem 23. November 2020 im türkischen Aliaga. Dann knirscht der Sand unter dem Rumpf der MS Astor und das Schiff kommt abgebremst durch den Strand abrupt zum Stehen. Das Ende eines Schiffslebens nach 33 Jahren auf den Weltmeeren, die Schiffssirene ertönt zum letzten Mal.

War dies seit 1987 immer ein stolzer Ton und für die Passagiere ein Zeichen «Leinen los und auf ins Abenteuer», so ist es an diesem Tag ein «Adieu, lebt wohl», ein ganz emotionaler Moment. Zumindest das Wetter meinte es gut an jenem Tag und so konnte man noch einmal deutlich erkennen, warum die MS Astor unter Liebhabern «Die weiße Lady» genannt wurde. 

Elke Dreißig, Stammgast des Kreuzfahrtschiffes, erklärt, was das Reisen mit ihr so besonders machte: «Für uns ist sie das schönste aller Kreuzfahrtschiffe, ästhetisch, formschön, eine überschaubare Passagierzahl, eine persönliche und familiäre Atmosphäre an Bord. Die MS Astor ist unser Traumschiff, mit dem wir jedes Jahr unterwegs waren.» 

Auf den Spuren der «Erlangen»

Es sollte unsere besondere Reise werden! Ich – als maritim Verbundener und Interessierter – wollte mich einreihen in die Schar der unzähligen Seefahrer, die sich den Traum des Kap Hoorn erfüllt haben. Meine Frau und ich würden die legendäre Route fahren, die die berühmten Hamburger Viermaster gesegelt waren: Hamburg – Valparaíso.

Auf der Hinreise waren die Viermaster beladen mit großer Ehrfurcht und der Hoffnung, den Atlantik und das Kap gut und schnell durchsegeln zu können, auf der Rückreise beladen mit Tonnen von Salpeter für Düngemittel und Sprengstoff. Alle schnellen P-Liner der Reederei Leisz sind diese Linie gefahren, auch die berühmte «Pamir», deren trauriges und bekanntes Schicksal sich auf der Rückreise vollendet hat. Nun würden wir genau auf dieser Route fahren, zumindest bis Valparaíso.

Was aber ebenso wichtig war für mich: Ich würde auf den Spuren des legendären Dampfer «Erlangen» folgen. Über das Schiff und seinen Kapitän Grams und seiner Familie hatte ich ein Buch geschrieben und herausgegeben. Wir würden Puerto Montt anlaufen und Valparaíso – Orte, in denen ich noch nie vorher gewesen war, aber die mir im Verlauf der Arbeit an dem Buch vertraut geworden waren.

Ich kannte die MS Astor von früheren Reisen und fühlte mich schnell «zu Hause» an Bord. Der 15. Dezember 2019 war ein Wintertag mit angenehmen Temperaturen und blauem Himmel. Nach dem Ablegen nahmen wir elbabwärts Kurs auf die Nordsee. Blankenese zog vorbei, die Kugelbake in Cuxhaven und gegen 21 Uhr, es war inzwischen natürlich dunkel geworden, verabschiedet der Helgoländer Leuchtturm die «Astor» an Steuerbord mit seinem ewigen Blinklicht, wir waren entlassen zur großen Fahrt.

«Der Kuss der Biskaya»

Die Nordsee, der Ärmelkanal, Dover, die holländische Küste, alles in Britisch-Grau, kaum etwas auszumachen. Umso glücklicher waren wir, dass wir Godwin Sands, kaum bekannt und doch mit circa 2.000 Schiffswracks einer der größten Schiffsfriedhöfe der Welt, ohne Karambolage passieren konnten. Der Kanal gab uns den Weg frei in die Biskaya, aber was für ein überaus passender Zufall: Genau hier kurz vor der furchterregenden Biskaya überholten wir die «Kruzenshtern», die ehemalige «Padua», den letzten noch aktiven P-Liner. Ich wusste, dass sie genau wie wir, unterwegs waren mit ihren Kadetten auf einer Weltreise und das Kap Hoorn umrunden wollten. Es war wie ein gutes Omen für unsere Reise.

Und die Probe unserer Seefestigkeit kam schon am nächsten Tag. Kathrin, die Kreuzfahrtdirektorin, nannte es «den Kuss der Biskaya», wir waren diesem Kuss drei Tage ausgeliefert, mit äußerst langsamer Fahrt, manchmal weit unter zehn Knoten. Das Schiff verschlossen, manches Glas zerbrochen. Immer eine Hand am Schiff, was besonders den Passagieren, die ohnehin auch ohne Seegang Schwierigkeiten hatten, nun noch schwerer fiel. Aber die Crew war immer zur Stelle. Sie geleitete die Gäste zum Tisch, brachte Essen oder holte es wieder ab, wenn ihnen der Appetit aus verständlichen Gründen vergangen war, bei Windstärke 10 bis 12 …

Am bedauerlichsten war, dass die Azoren nicht angelaufen werden konnten, keine Atempause in Funchal, weiter, nur noch weiter. Nächstes Ziel dann eben Mindelo, Kap Verde. Wir sahen die kargen Inseln im strahlenden Sonnenschein liegen, die Feuertaufe überstanden. Zum ersten Mal Weihnachten auf einem Schiff: ein wunderbar besinnlicher Abend trotz sommerlicher Temperaturen auf See. Die früher immer gefürchtete Atlantik-Überquerung nahmen wir leicht, endlich Luft und Sonne und besetzte Liegestühle überall. Den Äquator überquerten wir mühelos, eigentlich relativ unbemerkt.

Mit der ehemaligen Sklavenhändlerstadt Salvador de Bahia begrüßte uns der südamerikanische Kontinent, es ging auf Rio zu, dem berühmtesten Silvester-Feuerwerk der Welt. Die Astor bekam Liegeplatz Nr. 1 vor der Copacabana und wir ließen die Gläser zweimal klingen: einmal für die Lieben zu Hause und vier Stunden später für uns alle. Ein Fest! Müde schlich sich das Schiff noch in der Nacht in den Hafen, in Erwartung der zahlreichen anderen Kreuzfahrtschiffe. Aber was für ein Erwachen: niemand da! Die Astor allein auf der Welt, wir waren die einzigen, ein Traum!

Nächstes Ziel Montevideo. Beim Leuchtturm vor Punta del Este wechselte die Farbe des Meeres vom tiefen Blau in schmutziges Braun, die Einfahrt in die La Plata Mündung. Vor der Hafeneinfahrt durchquerten wir den nicht zu übersehenden Schiffsfriedhof von Montevideo und lagen dann pünktlich unmittelbar am Denkmal für die «Admiral Graf Spee». Wir erreichten Buenos Aires, es lag Tango in der Luft. 

Durch den Beagle-Kanal

Zwischen uns und dem Kap Hoorn beziehungsweise Ushuaia lagen nur noch Puerto Madryn und ausreichend Seemeilen. Und auch rote Gebiete auf dem Wetterradar: Die Temperaturen kündigten den kalten Süden an. Wir würden nun auch den 50. Breitengrad überqueren, den Start- und Zielpunkt für die Zeitmessung der Windjammer bei der Kap-Umrundung.

Unterhaltsam und daher immer wieder auf den Schiffen gewünscht ist der Film «Die Reise des Charles Darwin». Mit der «Beagle» durch den Beagle-Kanal. Darwin war vor rund 190 Jahren genau dort unterwegs, wo wir jetzt waren und noch hinwollten.

Endlich lag der Beagle-Kanal auch vor uns. Es war antarktisch kalt und windig – und doch romantisch. Ushuaia war erreicht, der Wind so stark, dass wir nicht anlegen konnten. Am nächsten Tag konnten wir auch nicht ablegen, der Wind war wieder zu stark! Die Stadt selbst klein, ein wenig unwirklich an manchen Stellen, was nicht verwundert, denn das Gefühl war da: das Ende der Welt? Am Leuchtturm «Les Éclaireurs» lag noch ein Stück vom Mast der «Monte Cervantes», des deutschen Luxusliners, der 1930 hier gescheitert war.

Erwartungsvoll ging es dann weiter im Beagle-Kanal, an den Gletschern entlang. Wobei sie eher beschaulich waren, aber das Wetter begrenzte auch die Sicht: Nebel, Nieselregen, kalt. Immer wieder gingen alle hinein ins Schiff zum Aufwärmen. Ein einziger Dampfer begegnete uns, der Containerfrachter «ER-Berlin» der Hamburger Reederei Erk Rickmers (das ER am Schornstein nahmen wir Erlanger als Gruß).

Beeindruckend, wie die «Kleine Weiße Lady» um die engen Biegungen des Beagle-Kanals kurvte, für größere Schiffe hier keine Chance! Durch eine Schärenwelt ging es auf nördlichen Kurs Richtung Puerto Montt. Hier fand 1939 der Dampfer «Erlangen» freundliche Aufnahme nach seiner Flucht aus Neuseeland. Für uns begann die letzte Etappe, direkt nach dem Ablegen mit dem schon oft gehörten Hinweis aus dem Bordlautsprecher: «Achtung, wir erwarten sehr bewegte See …»

Es hielt sich in Grenzen und glücklich erreichten wir unser Ziel Valparaíso. Eine mit wunderbaren Graffiti überquellende Stadt, mit fantastischer Aussicht von oben auf den Hafen und die Bucht. Wie muss es früher hier ausgesehen haben, hunderte Windjammer, Seeleute überall, wovon ein altes Graffiti an einem Haus kündet: «Liebe die Liebe der Matrosen, sie küssen und gehen!» Leider etwas vergangen der Glanz einer großen Hafenstadt, abgegeben an die südlich gelegene moderne Containerhafenstadt San Antonio, aber die bunten Fassaden der Häuser ziehen nach wie vor die Besucher an.

Es war unser Abschied. Die Astor lag direkt vor unserem Hotelzimmer. Mit Blinkzeichen verabschiedeten wir uns von den Freunden. Wir blickten wehmütig der «Astor» nach, bis sie hinter dem Horizont verschwunden war. Wenn ich das Morsealphabet beherrscht hätte, dann hätte ich geblinkt: «Danke an alle und: nächstens Meer.» Wir konnten nicht ahnen, dass wir dieses wunderbare Schiff das letzte Mal auf See sahen.

Die Corona-Auswirkungen 

Covid-19 brachte die gesamte Kreuzfahrtbranche jäh zum Erliegen. In diesem Sommer und Herbst 2020 landeten viele Schiffe auf dem nicht für sie vorgesehenen Terrain – an Land. Die MS Astor wird auch nicht der letzte Schiffsverlust bleiben. Und die MS Astor war und ist mit ihrem Schicksal, das sie jetzt ereilt hat, nicht allein. Teilweise «parken» die Schiffe in den nahegelegenen Buchten von Aliaga. Zu voll waren und sind die Abwrackwerften der Welt. Während die Charterunternehmen oder Reedereien ums Überleben kämpften, boomte das Geschäft mit dem Schrott. Nicht unweit der Stelle, an der die MS Astor ihren letzten Liegeplatz fand, lagen gleich fünf große Kreuzfahrtschiffe und wurden Stück für Stück auseinandergenommen. Allesamt größer und jünger als die MS Astor.

Der Branchenprimus Carnival Cruise Line reagiert auf den Markteinbruch mit einer deutlichen Verschlankung seiner Flotte. Gleich drei Schiffe der Fantasy-Klasse wurden nach Aliaga zur Verwertung gesendet, darunter auch das Typschiff die MS Carnival Fantasy. 

Auch das Unternehmen, für welches die MS Astor zuletzt fuhr – die TransoceanTours – konnte dem Konkurs durch Covid-19 nicht entgehen. Der Mutterkonzern CMV mit Sitz in Großbritannien musste 2020 Insolvenz anmelden. Im Zuge der Unternehmensauflösung kamen die Schiffe der CMV unter den Hammer. Während die MS Magellan, die MS Vasco da Gama und die MS Columbus neue Eigner fanden und wohl nach der Pandemie wieder auf den Weltmeeren fahren werden, ging es für die 1987 gebaute MS Astor wie beschrieben nach Aliaga unter den Schweißbrenner. 

Der Namensgeber der Astor

Die MS Astor (2) wurde in Kiel gebaut und 1987 in Dienst gestellt. Sie sah der älteren Schwester zum Verwechseln ähnlich, war jedoch 13 Meter länger. Der Namensgeber des Schiffs war ein deutscher Auswanderer namens Johannes Jacob Astor. 1763 in Walldorf geboren kam er 1784 nahezu mittellos in den USA an. Mit dem Wenigen, was er hatte, handelte er mit den Indianern und baute ein erfolgreiches Geschäftsnetzwerk auf. Als er 1848 starb, galt er als einer der reichsten und einflussreichsten Männer der Welt und hinterließ nicht nur mehr als 200 Millionen Dollar, sondern auch seinen Namen. Aus seiner Familie stammen zum Beispiel die Gründer des «Waldorf Astoria» in New York oder auch Nancy Astor, die 1906 als erste Frau ins britische Unterhaus einzog sowie auch Johann Jacob Astor IV. Dieser kam beim Untergang der Titanic ums Leben und soll kurz nach der Kollision mit dem Eisberg noch scherzhaft geäußert haben, dass er zwar Eis zu seinem Drink bestellt hätte, dies aber nun doch für übertrieben halte. 

Eine wechselvolle Geschichte

Bereits ein Jahr nach der Jungfernfahrt wurde die MS Astor in die Sowjetunion verkauft und erhielt den Namen «Fedor Dostoevski». Erst 1995 kam das Schiff zurück nach Deutschland und wurde wieder auf den Namen MS Astor getauft und von Transocean Tours als Charterschiff auf Reisen geschickt. 2002 kam ihre ältere Schwester ebenfalls zu Transocean Tours und erhielt den Namen MS Astoria. Die gemeinsame Zeit dauerte jedoch nur bis 2010. In diesem Jahr musste die Trans-
ocean Tours zum ersten Mal Insolvenz anmelden. Nachdem das Unternehmen saniert wurde, blieb die MS Astor beim Folgeunternehmen Transocean Kreuzfahrten GmbH & Co KG, während die MS Astoria versteigert wurde und als MS Saga Pearl II weiter betrieben wurde. 2014 wurde die Betreibergesellschaft als CMV Transocean in das britische Unternehmen Cruise Maritime Voyages (CMV) integriert, was jedoch die zweite Insolvenz am Ende des gleichen Jahres nicht verhindern konnte. Nun kaufte der bisherige Charter CMV die Transocean und damit auch die MS Astor und setze sie ab diesem Zeitpunkt auf dem deutschen Hochseekreuzfahrtmarkt ein. Mit zwei Weltumsegelungen im Winter 2019/2020 und 2020/2021 sollte die MS Astor Abschied von ihren deutschen Gästen nehmen und für CMV ab Frühjahr 2021 auf dem französischen Markt als MS Jules Verne eingesetzt werden. Nach der Weltreise jedoch traf die Corona-Pandemie das britische Unternehmen CMV hart und die MS Astor sah sich mit der dritten Insolvenz konfrontiert. Die Flotte der CMV wurde Anfang Oktober 2020 versteigert. Für nur 1,71 Millionen US-Dollar, was dem Schrottwert entsprach, wurde BMS Gemi Geri Donusum Sanayi ve Ticaret Eigentümer der MS Astor. Am 7. November 2020 verließ sie den Heimathafen der CMV-Schiffe in Tilbury in England und brach zu ihrer letzten Reise nach Aliaga in der Türkei auf, wo sie am
21. November ankam. 

Frank Müller, Autor des Buches «Die legendäre Flucht des Dampfers «Erlangen» – Ein Mythos», im Januar 2020 im Flughafen in Santiago nach seiner letzten Fahrt auf der 
MS Astor

Bis zuletzt versuchte eine Fangemeinschaft, die MS Astor vor der Verschrottung zu retten. Die beiden letzten Töne des Typhons am frühen Nachmittag des 23. Novembers jedoch beendeten diese Versuche. Sie bedeuten das Ende eines Schiffes, das oft mit ihrer Schwester verwechselt wird und doch einmalig war. Ein Schiff, das nun nur noch in den Erinnerungen weiterleben kann. Denn auch, wenn es selbst keine Zukunft mehr hat, so hat die MS Astor eines auf jeden Fall: viele Fans, welche die MS Astor im Herzen tragen.

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