Das Jahr 2020 bescherte uns eine Krise in einem geballten Ausmaß. Alle Menschen auf der Welt und alle Bereiche von der Wirtschaft und den Schulen bis hin zu Sport, Kultur und dem Familienleben sind von der Corona-Pandemie betroffen. Die freien Mitarbeiter des Cóndor schreiben aus ihrer Sicht, wie sie auf das Jahr 2020 zurückblicken und was sie vom neuen Jahr 2021 erhoffen und erwarten.
«Meine Zeit steht in deinen Händen» (Psalm 31,16)
Zur Jahreswende
Liebe Mitreisende auf dem allein wunderschön blauen Raumschiff Erde!
Es ist schon etliche Jahre her, da war ich zur Jahreswende krank, musste streng das Bett hüten und hatte so das Privileg, nicht mit der Herde auf Chronometer jeglicher Machart starren zu müssen, bis dass es in das große Schweigen 24 Uhr schlug oder tickte. Ich musste auch nicht nach jeder Feuerwerksexplosion in Ekstase geraten, sah mir einige an, sie gefielen mir und ich bewunderte die Kunstfertigkeit eine Weile durchs Fenster, dann las ich in meinem Buche weiter: Gedichte von Hermann Hesse, den ich liebe. Heute berührt mich jenes Gedicht noch mehr als damals: «Der alte Mann und seine Hände.» Ja, er meinte mit den seinen zufrieden sein zu können (2. Strophe). Ich blicke auf die meinen und finde darin nur eine einzige von mir selbst in 81 Jahren darin eingetragene Rune, die ich Luther abgeschrieben und mir zu eigen gemacht habe, sein letztes schriftlich niedergelegtes Wort: «Wir sind Bettler, das ist wahr.» Ja, das ist gewisslich wahr!!
Und doch sind diese Hände nicht leer geblieben, denn der große Menschenschöpfer und deshalb Menschenkenner hat sie mir mit den allerkostbarsten und beglückenden Schätzen gefüllt: mit meiner lieben Frau, unseren Kindern und unseren Enkeln. Wie komme ich bloß dazu? Nicht im Traum hab´ich`s verdient! Nie und nimmer hätt´ ich´s erringen können! Ich danke ihm für diesen großen Segen und bitte ihn zugleich, auch sie, die Gaben, in seine Liebe und Barmherzigkeit zu hüllen an diesem Tag, und jeden Tag auf´s Neue zu segnen, denn auch ihre Zeit steht, wie die meine in seiner Hand.
Und da Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mit mir Reisegefährten auf diesem Raumschiff sind, kam mir der Gedanke, Sie auch zu Gefährten des Besinnens und des Nachdenkens zu machen und Sie einzuladen, in dieser Nacht der Wende den gleichen Blick auf Ihre Hände fragend zu richten. Erinnern Sie sich, wie Blicke sich wandeln können?
Gott segne uns alle und führe seine Geschöpfe einer besseren Zukunft entgegen!
Mit den besten Grüßen und Wünschen
Ihr Richard Wagner
Die Atmosphäre war anders
Von Paula Castillo
Wo kann man Inspiration für einen Jahresrückblick finden? Meine Kinder sagten, ich sollte auf meine Spotify-Listen zurückgreifen. Und tatsächlich riefen diese Lieder viele Erinnerungen von einem Jahr wach, das bei mir mit der Freude begonnen hatte, dass 2019 endlich zu Ende gegangen war. Das hatte mir, unter anderem, genau am 18. Oktober, eine Gallensteinentfernung eingebracht und schließlich am gleichen Tag Chile eine landesweite Revolution, die ich ehrlich gesagt bis heute noch nicht ganz verdauen kann. In der Nacht zu Silvester 2020 schrieb jemand in den sozialen Netzwerken herausfordernd: «#2020, überrasche mich!» Belustigt, stimmte ich zu.
Wie immer ging ich genau um Mitternacht eine Runde mit einem Koffer durch die Straße, ein altes lustiges Silvesterritual, wenn man im darauffolgenden Jahr verreisen will. Dabei sah ich auch andere Menschen, die ebenfalls spazierten, doch die Atmosphäre war anders. War das eine Vorahnung, dass sich in der Luft bereits etwas Neues zusammenbraute? Was, wenn Jodorowskys Bücher doch Recht haben und wir uns in einer Welt mit magischen Kräften befinden, die unser Leben beeinflussen? Hatte ich vielleicht aus Belustigung spielerisch bösartige Kräfte – und zwar online! – heraufbeschworen?
Bald darauf kamen die ersten Nachrichten rund um Corona. Schneller als gedacht gehörte ich zu den tausenden Menschen weltweit, die nun vor dem Computer saßen und nicht nur eine Erlaubnis für den Supermarkt wollten. Ich hätte nie gedacht, dass neben Fitnessübungen (die ersten
enthusiastisch, bis ich irgendwann aufgab), Geburtstagsfeiern, Serien, Interviews, Kochkursen, Privatstunden, Infoabenden und sogar Gottesdienste auf der Liste der «online events» stehen würden.
Nun befinde ich mich in Köln (hat der Gang mit dem Koffer damit zu tun?), wo übrigens ab Mittwoch, 16. Dezember, wieder ein Lockdown beginnen soll. In der Zeitung lese ich über einen Vorschlag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, einen interreligiösen Feiertag in Deutschland zum Gedenken an die Pandemie einzuführen. Das soll zum Austausch führen und daran erinnern, wie zerbrechlich unsere Zivilisation ist. Vor allem soll er ein Zeichen setzen und erinnern, wie die Gesellschaft sich damit auseinandergesetzt hat. Ich denke dabei an die erschöpften Krankenschwestern, Ärzte, Krankenpfleger und Lehrer. An die alleinerziehenden Eltern und deren Kinder. An die Künstler, an die Geschäftsleute, die sich im Nu umstellten, an die netten Nachbarn, die immer andere fragen, ob sie was brauchen. Ein neues Silvester steht bevor. #2021 wir haben Muskeln, die wir nicht kannten. Du kannst ruhig kommen!
Eine Chance, das Leben bewusster zu gestalten
Von Nicole Erler
Ein besonderes Jahr geht zu Ende, in dem eine Pandemie unseren Alltag bestimmt hat. Wir wurden alle mehr oder weniger aus unserer gewohnten Bahn gerissen und sehen uns individuell und als gesamte Menschheit einer neuen Realität gegenüber.
Mit verschiedenen Menschen habe ich dieses Jahr für den Cóndor Gespräche über ihren persönlichen und beruflichen Lebensweg geführt. Der Inhalt der Interviews wird auf Seite 16 als Porträt veröffentlicht. Ich staune jedes Mal erneut darüber, wie individuell, einzigartig und besonders jedes Leben ist. Das Porträt-Interview dauert etwas über eine Stunde. In diesem Zeitraum fasst mein Gesprächspartner sein Leben in einer Rückschau zusammen. Besonders mag ich es, wenn die Menschen über die Lebensereignisse berichten, die ihrem Leben einen besonderen Sinn verliehen haben. Während des Erzählens blühen die Menschen auf.
Ich selbst möchte diese Art von Ereignissen in der Zukunft bewusster suchen, indem ich mich frage, was für mich wirklich zählt. Was blieb bisher unerledigt? Eine weitere wichtige Frage, der ich mich stellen möchte. Die Pandemie stößt uns darauf hin, diese Dinge anzugehen – persönlich und global. Sie hat mir vor Augen geführt, was eigentlich schon immer klar war: Dieses Leben kann schnell an einem seidenen Faden hängen. Ein guter Grund, um mich ab nun bewusster auf die Dinge zu konzentrieren, die mir am Herzen liegen.
2020 bleibt uns allen unvergessen – das ist sicher. Wir alle werden mit einer gemeinsamen Quintessenz ins Jahr 2021 gehen, die uns unser Leben realistischer betrachten lässt: Sicherheit ist eine Illusion und wir können nie wirklich wissen, was als nächstes kommt. Ich persönlich denke, dass diese Einsicht ein Geschenk der Pandemie ist, denn es ist eine Chance, das Leben bewusster zu gestalten und persönliche Momente intensiver zu erleben. Vielleicht geschieht dies erst im Rückblick auf diese besonderen Tage von 2020, dann, wenn sich die Situation entspannt. Ich wünsche mir, dass uns das Jahr 2021 diesen Raum zur persönlichen und gemeinschaftlichen Reflexion eröffnet.
Persona non grata des Jahres 2020
Von Michael Köbrich
Ein enttäuschendes Olympiajahr geht zu Ende. Das Weltevent Japan 2020 wird um ein Jahr verschoben und die Veranstalter hoffen die Olympischen Sommerspiele vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in Tokio, Japans Hauptstadt, ausrichten zu können.
Doch wer kann das schon endgültig behaupten. Welche Sicherheit gäbe es dafür? Absolut keine, doch die Hoffnung gibt man nicht auf. So etwas Ungewöhnliches hat es noch nie gegeben, denn bisher haben nur Weltkriege Olympische Spiele zum Scheitern gebracht. Noch nie gab es eine Pandemie, die den ganzen Globus so verunsichert und somit unzählige sportliche Veranstaltungen storniert wurden. Der Cóndor hat schon mehrmals darüber berichtet.
Die Menschheit muss sich beugen und kann nicht dagegen ankämpfen. Starke Sportler mit durchtrainierten Körpern dürfen nicht antreten, denn die Gefahr eines Infekts ist zu groß und die Folgen unübersehbar. Es gibt keinen Wettkampf. Der Lockdown stellt leider alles in Frage; viele qualifizierte Sportler sind in einer ungewissen Situation, wie es weiter geht. Das zermürbt Geist und Körper. Leistungssportler brauchen eine starke Psyche, um Zweifel und Ängste zu bewältigen.
In Chile reden wir von 15 Auserwählten, die sich schon vor dem Pandemieausbruch qualifiziert hatten, unter anderem Kristel Köbrich und Martin Vidaurre Kossmann. Sie können ihr maximales Niveau nicht ständig halten. Es kommen Tiefpunkte mit langen Trainingsperioden. Doch wer kann wo diese Bedingungen mit Erfolg durchhalten, wenn viele Sportstätten nicht geöffnet sind? Fragen und noch mehr Fragen. Die Vorbereitungen brauchen Ziele und verlangen auch Wettkämpfe, die zum großen Teil auch abgesagt sind. Berechtigte Zweifel entstehen und alles wird wohl anders kommen. Alles ist unübersichtlich und unberechenbar. Es sind keine Verschwörungen: Es sind Fakten, mit denen die Olympiasportler sich auseinandersetzen müssen.
Diese Spiele sind das größte Zuschauerevent der Welt, sei es im Fernsehen oder live im Stadion. Sponsoren und Veranstalter hoffen, dass alles glatt verläuft. Coronavirus wäre ein unerwünschter Gast, Persona non grata. Doch eines ist klar: Gesundheit steht an erster Stelle. Olympia ist zweitrangig und jegliche Teilnahme kann ein Risiko sein. Es sind noch über sechs Monate Ungewissheit!