Alle verflixten 60 Jahre wieder – die DS La Unión zwischen Erdbeben und Pandemie
Von Michael Schwark
Deutschunterricht und Darstellendes Spiel mit Michael Schwark Experimente in Physik mit der 12. Klasse und Roberto Moraleda Der neue Schulhof der Unterstufe
Es soll hier ein Bogen über mehr als 60 Jahre gespannt werden. Bezeichnenderweise ist es nur heute eben kein Erdbeben, sondern eine weltweite Pandemie, die unsere Feierlichkeiten trübte. Lasst uns aber trotzdem gemeinsam die Hemdsärmel hochkrempeln und keine Trübsal blasen!
Denn es geschah schon einmal, an einem Sonntag vor 60 Jahren, dem 22. Mai 1960, um 15.11 Uhr, dass uns ein großes Unglück ereilte. Die Erde bebte gewaltig; und während große Flächen in und um die Städte Puerto Montt, Valdivia und Concepción im sprichwörtlichlichen Erdboden versanken, tagte gerade noch der Deutsch-Chilenische Bund im Deutschen Verein in La Unión. Man feierte das hundertjährige Bestehen unserer kleinen Deutschen Schule im Süden, der viertältesten in unserem schönen Chile. Die Gäste, die eben noch zu Mittag saßen, rannten, so gut sie konnten, auf die Straße und versuchten alsbald, in ihre Heimatorte abzureisen. Unter ihnen war auch Claus von Plate, der damalige Eigentümer und Redakteur vom Cóndor.
Erster Neubau nach Erdbeben
Aber 1962, schon zwei Jahre nach der verheerenden Katastrophe, wurde jedenfalls der erste Bauabschnitt unserer neuen Schule im Bauhausstil eröffnet, dem bald darauf ein Anbau folgte, der das alte Schulgebäude vollends ersetzte. Auch der beim Erdbeben beschädigte Obelisk, das älteste deutsche Kulturdenkmal Chiles, das an unseren Namensvater erinnert, fand im Zuge der Einweihungsfeier seinen neuen Bestimmungsort. An dem steht er heute noch firm und grüßt unsere Besucher.
Günter Ostermai steuerte unsere Schule durch diese schwere Zeit zwischen 1957 und 1964 als Direktor und vermochte dabei, die Schülerzahl gar noch zu verdoppeln. In seinem lesenswerten Buch «Bilanz der Tat» kann der geneigte Leser mehr über die geschilderte bewegende Epoche und ihre Anstrengungen erfahren. Es schält sich dort eine allgemeingültige Einstellung heraus: Aufgeben darf man nicht! Sicherlich auch: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Aufstehen, weitermachen. Es ist eben nicht dienlich, sich im Hier und Jetzt immer nur ausschließlich mit anderen zu vergleichen. Es tut immer auch gerade gut zu schauen, wer und wie man gestern eigentlich noch war.
Moderne Labore und digitale Tafeln
In diesem Sinne bewegt sich bis heute viel an der Deutschen Schule La Unión. Auch gerade in den letzten acht Jahren, die ich als Fachleiter Deutsch miterleben durfte. Dabei lag der Fokus immer sowohl auf der Weiterentwicklung einer zeitgemäßen schulischen Infrastruktur als auch der pädagogischen Arbeit mit den Kindern. Dank des Engagements unseres im letzten Jahr nach Deutschland verabschiedeten Schulleiters Kurt Köhler erstrahlen die Schulhöfe unserer Grundschule und der Sekundarstufe in neuen Farben und Formen – mit altersgerechten Spielgeräten und funktionalen Räumen, in denen Schüler und Lehrer gemeinsam die Pausen verbringen oder auch Unterricht an der freien Luft abhalten.
Eine neue Turnhalle mit Sportgeräten wurde eingerichtet. Ein modernes Chemie- und Physiklabor mit Experimentiertischen zog ein. Lärmschutzdecken im Gebäude unseres Kindergartens haben gemeinsam mit vielen Lernmaterialien für so manche frohe Stunde gesorgt. Ende letzten Jahres hat nun auch unsere Bibliothek den Weg in ein neues Zeitalter angetreten. Nicht vergessen darf man die neuen und ergonomischen Sitzmöbel; die haben Luft in die großzügigen Klassenzimmer gebracht. Alte Kreidetafeln wurden ersetzt durch moderne digitale Tafeln, ein nicht mehr zeitgemäßes Computerkabinett wich einer Lösung für mobiles digitales Lernen und einem Raum für Elektronikkurse. Die Welt «mal eben schnell auf Knopfdruck» in das Klassenzimmer hineinholen – ein Luxus für Lehrer, den sie immer stärker nutzen.
Gemeinsames und lebendiges Lernen
Aber all das soll nicht ablenken von dem, was unsere kleine Schule am meisten auszeichnet: das gemeinsame Lernen mit den Kindern und Jugendlichen, die Schaffung eines menschlichen und fachlichen Zusammenhalts zwischen Kollegen, Schulleitung und Schulvorstand. Wichtige Stichwörter waren fortlaufend: lebendiger Unterricht, Binnendifferenzierung und lernerorientierte Methoden. Das Wohl des Kindes steht im Vordergrund. Davon profitieren alle Fächer, sei es Sport, Sprachen, Mathematik oder die Wissenschaft. Es wachsen bis heute aufgeweckte, interessierte und motivierte Kinder heran. Probleme gibt es immer. Aber die sind da, um gelöst zu werden.
Die kleinen Klassen und die Kontinuität unter den Lehrern und deren Motivation machen das gesunde und herzliche Lernklima aus. Im Bereich Deutsch freut mich besonders, wie die Sprache zwischen Lehrer und Kind auch auf dem Schulhof noch gesprochen wird. Die Motivierung für Sprachen, die Begeisterung für das Sprachdiplom 1 und 2 sowie eine energische Studienberatung ermöglichen es, dass immer mehr Schüler ihren Weg an Universitäten im Ausland finden. Deutsch darf und soll kein lebloses Fach sein, sondern als Teil gemeinsamer Kultur nur das Vehikel zum Kennenlernen der Welt und zum Ausschöpfen der vielen Interessen und fachlichen Möglichkeiten, die sich heute durch die erhöhte Mobilität bieten.
Das meint mitnichten nur oder unbedingt ein Studium in Deutschland. Ganz selbstverständlich, ja ganz wie von selbst ist nämlich auch die Kooperation mit dem Insalco und dem Seminar für deutschsprachige Pädagogik der Universität Talca in Vitacura (ehemals LBI) immer wichtiger geworden. Das zeigt: Unsere Schule hat Bestand und sie hat sich bewährt. Mit unserem neuen Schulleiter Franz Sieber, der zuvor bereits viele Jahre das Instituto Alemán Puerto Montt geleitet hat, darf man sich zu Recht darauf freuen, dass diese Entwicklung so gesichert ist und weiter voranschreitet.
La Unión, so schrieb Ostermai schon 1959 im Cóndor, liegt 15.300 Kilometer südwestlich von Berlin. La Unión liegt auch 15.300 Kilometer von meiner Heimatstadt in Brandenburg entfernt. Und wie Ostermai vielleicht auch, hätte ich es mir in jungen Jahren nicht träumen lassen, einmal so fern der Heimat viele Jahre einen sehr bescheidenen Teil zu etwas beizutragen, das Bestand hat in einer sich nur scheinbar immer schneller drehenden Welt.