Von Pastor Johannes Merkel
Ein Rucksack voll 2020
Der Rucksack, den wir in diesem Jahr aufhaben, wenn wir zur Krippe kommen, ist anders gefüllt, als in den Vorjahren. Bei mir – wie wahrscheinlich bei vielen Menschen auf dem ganzen Planeten – liegen schwere Steine drin von Sorgen und Nöten, die mit der Pandemie zusammenhängen: Manche sind am Eingeschlossensein verzweifelt, andere haben ihr Einkommen verloren. Es gab in Chile hunderttausende Kranke und viel zu viele Tote. Zwischendurch schienen Hoffnung und Zuversicht abhanden gekommen zu sein und manchen hat die gesamte Situation psychisch und physisch ziemlich zu schaffen gemacht.
Auch die frohen Erinnerungen, der Dank den wir in diesem Jahr dem Jesuskind vor die Füße legen können, sehen wohl anders aus als 2019 oder 2018. Was früher normal schien, war jetzt Grund zu großer Freude: ein Wiedersehen nach langen Monaten, Gefühl der Freiheit, endlich mal wieder am Meer zu stehen. Aber auch die Erleichterung, als im Juli die Zahlen endlich sanken oder die große Dankbarkeit an das medizinische Personal. Manche sind außerdem nach schwierigen Wochen wieder gesund geworden, andere froh, die Zeit als Familie so gut überstanden zu haben. Diesen Rucksack-Inhalt hat sich vor zwölf Monaten niemand vorstellen können.
Gott in der Pandemie
Vielleicht wurde deshalb im zu Ende gehenden Jahr öfter als sonst zu Gott gerufen. Mir persönlich hat mein Glauben jedenfalls Kraft gegeben und ich weiß von anderen, denen es genauso ging. Aber es gab auch fragwürdige christliche Theorien über die Pandemie als Strafe Gottes. Und wenn man Interviews aus Deutschland sieht, in denen Menschen mit großem Eifer behaupten, dass das Virus nur eine Erfindung sei und finsteren politischen Zielen diene, war man an religiöse Fanatiker erinnert, die mit ähnlicher Ignoranz der Tatsachen ihren Fanatismus leben.
Die alte Frage «Warum lässt Gott das alles zu?» habe ich dagegen selten gehört. Vielleicht weil die meisten Menschen inzwischen so weit weg von religiösen Überzeugungen sind, dass sich diese Frage nicht mal mehr stellt. Oder weil den meisten klar ist, dass wir hier ein sehr menschliches Problem haben. Beginnend bei dem Umgang mit Natur und wilden Tieren und ihren Krankheiten. Ausgebreitet durch Vertuschung und internationale Globalisierung und Ignoranz. In vielen Bereichen schonungslos die Ungleichheit zwischen armen und reichen Staaten, aber auch Bevölkerungsteilen offenlegend.
Wie die Hirten und wie die Könige?
So schleichen die einen in diesem Jahr zur Krippe, müde und erschöpft vom Home-Office und fehlenden Ferien. So fragen sich manche, wie sie dieses Jahr Weihnachten feiern sollen: Können wir den Besuch bei den Großeltern «riskieren»? Auch sind die Aussichten für das, was nach Silvester folgen wird weit weniger rosig als in früheren Zeiten. Viel weniger kann man vorhersagen, was in den kommenden zwölf Monaten anstehen wird. Viel unsicherer erscheint die Zukunft, wenn auch der Impfstoff wie ein Licht am Ende des Tunnels leuchtet.
Ist das die Situation der «Hirten auf den Feldern bei Bethlehem»? Große Hoffnung, aber wenig auf der Habenseite? Im vollen Bewusstsein, dass ein Raubtier jederzeit Arbeit und Leben vernichten kann. Ohne Gewissheit, dass es besser wird. Aber so etwas wie Nummer 7 im Evangelischen Gesangbuch im Herzen: «O Heiland reiß die Himmel auf… Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?… o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein!»
Für viele war das eine harte Lektion im Jahr 2020: dass man nicht alles selbst planen, vorhersehen, organisieren kann. Dass das Leben und viele Gegebenheiten nicht in der eigenen Hand liegen. Es ist noch nicht mal sicher, dass es Ferien gibt (plötzlich fanden die für den Winter geplanten schon nach Ostern statt). Von der Möglichkeit wegfahren zu können mal ganz zu schweigen (auch wer das Geld dazu hat, sieht sich in seinen Reisemöglichkeiten plötzlich arg eingeschränkt). Um es radikal und in alter religiöser Sprache zu sagen: Unsere Pläne stehen unter dem Vorbehalt «so Gott will und wir leben». (Jakobus 4,15)
Die «Hirten auf den Feldern bei Bethlehem» lebten klar in dieser Perspektive. Ihre Ängste und ihre Hoffnungen («Oh Heiland reiß die Himmel auf!») brachten sie mit an die Krippe. In ihren Taschen wenig Materielles, aber große Sehnsucht.
Dafür legten die Könige kostbare Geschenke ab. Wir wissen nicht, ob sie Abenteurer oder Sinn-Sucher waren. Da gibt es verschiedene Deutungen. Sie haben auf jeden Fall etwas riskiert: Ihren alten Schriften und ihrer Intuition vertraut. Auf den Bildern sieht es immer schick aus, wie sie in den bunten Gewändern mit den Kamelen ankommen. Aber die Wochen vorher waren höchstwahrscheinlich von vielen Fragen geprägt und nicht unbedingt lustig.
Es war toll, wie viele Geschenke es in den vergangenen Monaten gab! Nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe, aber Einkaufshilfe oder Zuwendung. Viele haben gespendet, damit andere Grundnahrungsmittel bekamen. Manche Länder organisierten sich, damit auch die ärmeren Nationen mit Impfstoffen versorgt werden können. Die Pandemie hat viel Egoismus – zwischen Einzelnen und zwischen Staaten – deutlich werden lassen. Aber auch große Solidarität, beeindruckende Rücksichtnahme und viel Gemeinschaft.
Das Jesuskind wird später von Nächstenliebe sprechen und ohne Umschweife auf die zugehen, die sonst nicht beachtet oder offen diskriminiert werden. In seiner Nachfolge wurde auch 2020 viel Gutes getan.
Im Stall scheint es zu leuchten
Die letzten Kilometer bis zur Krippe haben es nochmal in sich. Die Landschaft rund um Bethlehem herum ist ziemlich hügelig. Es geht andauernd hoch und wieder runter. Dem einen zwickt das Knie, dem anderen die Wade, ein dritter mag den Rucksack nicht mehr tragen.
Dafür leuchtet der Stern ganz hell. Es kann keinen Zweifel mehr geben, dass er hierher führt. Und was hat es eigentlich mit dieser himmlischen Melodie auf sich, die die Luft erfüllt. Ist das noch Summen oder schon Gesang? Woher kommt das? Und dieses Flirren in der Luft.
Der Stall ist eher ein Verschlag. Und wirklich winzig. Die Hirten stehen darum draußen. Oder liegen. Einer schläft mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Der muss den Heiland gesehen haben.
Ein König spricht mich an und erklärt, ohne dass ich ihn gefragt hätte, dass das die merkwürdigste Reise seines Lebens war. Nie hätte er gedacht, dass man so ins Ungewisse aufbrechen kann. Und er staunt selbst, welchen Entbehrungen er in der gesamten Zeit widerstehen konnte. «Und nun das hier…» mit strahlenden Augen deutete er auf die klapprige Hütte hinter sich.
Ich bin ziemlich erschöpft vom Weg und vom Jahr. Etwas in mir fragt, was ich eigentlich hier zu suchen hab. Habe ich Geschenke mitgebracht wie die Könige? Oder Erwartungen wie die Hirten? – ich habe eigentlich gar nichts dabei. Aber zwölf krasse Monate 2020 stecken in mir und die sind größtenteils weder ein Geschenk, noch besonders hoffnungsfroh.
Aber was soll´s. Wenn ich nun schon einmal hier bin. Wenn nun schon Weihnachten ist. Ich gehe also noch die paar Schritte zur Hütte. Den Rucksack lasse ich vielleicht lieber draußen. Mir fällt auf: Jetzt leuchtet nicht nur der Stern. Im Stall selbst scheint es ein Licht zu geben, mächtig und warm. Und die Melodien hört man jetzt auch noch deutlicher. Das ist doch Gesang. Himmlischer Gesang! Mir geht das Herz auf. Zaghaft und mit lautem Herzklopfen greife ich zur Türklinke.