Von Erwin Ramdohr

Der Winter 1813 war sehr hart, sodass die «Patriotas» die Belagerung von Chillán aufgeben mussten. Unverständlicherweise überließ General Carrera den Spaniern nicht nur die Stadt, sondern auch das naheliegende Umland. Das führte dazu, dass die königstreuen Soldaten die umliegenden Bauernhöfe plünderten, um die Versorgung ihres Heeres sicher zu stellen.
Carrera führte sein Heer nach Concepción und quartierte sich dort ein, anstatt nach Santiago zu reisen und seinen Platz in der «Junta» wieder einzunehmen. Die Nachrichten, die bis Santiago durchsickerten, waren konfus. Viele fragten sich, wie es dazu kommen konnte, dass ein Heer von mehr als 10.000 chilenischen Soldaten, die weit in der Minderzahl gewesenen 4.000 «Realistas» nicht besiegt hatte.
Die Umstände veranlassten die Regierungsmitglieder künftig in der Stadt Talca zu tagen, um näher an den Geschehnissen zu sein und die Lage besser berurteilen zu können. Nachdem sie die Aussagen verschiedener Kriegszeugen angehört hatten, waren sie der Meinung, dass die Situation sich bald ändern musste: José Miguel de la Carrera war in Concepción keineswegs um die zukünftige Sicherheit der Nation besorgt, sondern verbrachte seine Zeit damit, Feste zu feiern. Deswegen beschlossen die Regierungsmitglieder, dass die Brüder de la Carrera von ihren Ämtern entlassen, Bernardo O’Higgins zum General befördert und anschließend als Kommandant der gesamten Armee ernannt werden sollte.
Dieser Beschluss brachte jedoch Konflikte mit sich. Auch wenn viele Angehörige der Truppen damit einverstanden waren, Carrera abzusetzen, so gab es doch eine nicht geringe Gruppe von Offizieren, die Carrera treu waren und seine Entlassung nicht anerkennen wollten. Doch dann, im November 1813 – nach mehreren Aufschüben – gab Carrera endlich selbst nach und erkannte O’Higgins als seinen Vorgesetzten an. Es entstand aber eine äußerst schwierige Lage, als spanische Spione Carrera und seinen Bruder Luis gefangen nahmen und in Chillán festhielten – denn dafür wurde dann natürlich O’Higgins beschuldigt.
Ein Wettrennen gegen die Spanier beginnt
Der neue Kommandant tat alles, um das Heer halbwegs wieder zu ordnen, es auszustatten und zu versorgen. Er ließ Pferde, Wagen und Waffen auftreiben, um die Regimenter wieder kampfbereit zu machen. Es war keine leichte Arbeit, insbesondere aufgrund der finanziellen Lage. Hinzu kam eine bittere Nachricht: Ein neues Heer der Spanier näherte sich und O’Higgins stellte fest, dass er nicht genügend Soldaten hatte, um sich diesem Aufgebot zu stellen. Gabino Gaínza, der spanische Kommandant, ging mit seinen Truppen in Arauco von Bord und fand sich keinem Widerstand gegenüber. Somit marschierte er mit seinem Heer fast ungehindert Richtung Norden.
Mariano Osorio (Virginia Bourgeois, circa 1871-1873, Museo Histórico Nacional in Santiago) Francisco de la Lastra (Raymond Monvoisin, im Besitz von Teresa Amunátegui de la Lastra)
O´Higgins zog sich ebenfalls gen Norden zurück, um die Verteidigung der Hauptstadt zu planen. Mit ihren jeweiligen Streitkräften bewegten sich die Heere von O´Higgins und Mackenna – trotz einiger Auseinandersetzungen – so schnell wie möglich in nördliche Richtung, um von den Spaniern nicht eingeholt zu werden. Die Milizen Gaínzas nahmen jedoch schon bald Talca ein.
Die Bürger von Santiago gerieten nun in Panik. Während die ersten Kämpfe im Süden weit entfernt von ihnen ausgefochten worden waren, so lag Talca ihnen zu nahe bei der Hauptstadt. Während einer Gemeinderatssitzung wurde eilig der Freimaurer Francisco de la Lastra dazu bestimmt, für die Verteidigung der Stadt und ihrer Bürger zu sorgen.
In dieser ernsten Lage – mittellos und mit einem kraftlosen Heer – war das weitere Bestehen der jungen Republik Chile gefährdet. De la Lastra war äußerst besorgt, denn er wusste, dass alle seine Bestrebungen scheitern konnten. Doch dann ergab sich eine unerwartete Wendung: James Hillyar, ein englischer Kapitän, brachte aus Peru das Angebot vom Vizekönig, das einen Waffenstillstand sowie ein Abkommen vorsah, laut dem Chile dem König gegenüber Loyalität schwören und sich gleichzeitig der neuen spanischen Verfassung unterwerfen sollte. Die in Chile, von den Chilenen gewählte Beamtenschaft dürfte weiterhin das Land regieren. Sodann würde das spanische Heer in wenigen Wochen das Gebiet verlassen. Sowohl General Gaínza wie auch General O’Higgins wussten zwar, dass dieses Abkommen nicht eingehalten werden würde, doch es gab beiden genügend Zeit, um Kräfte zu sammeln. So wurde der «Pakt von Lircay» – trotz aller Zweifel an seiner Umsetzung – schließlich unterschrieben.
Der dritte Putsch 1814 – Carrera gelangt wieder an die Macht
Während der Verhandlungen verursachte ein folgenreiches Ereignis unter der Bürgerschaft Chiles große Erregung: José Miguel und Luis de la Carrera waren aus ihrer Gefangenschaft geflohen und erreichten bald die Stadt Santiago, wo sie immer noch viele Anhänger in der Oberschicht hatten. Die Möglichkeit, dass es zu einem neuen Aufstand kam, war äußerst wahrscheinlich. Bekümmert ließ de la Lastra die Brüder Carrera verfolgen, um sie zu verhaften. Doch mit der Hilfe von Komplizen konnten sie sich verstecken. Dann geschah das Befürchtete: Die Regierung von de la Lastra wurde gestürzt und José Miguel erlangte die Macht zurück. Binnen kurzer Zeit ließ er seine Gegner verbannen. Lastra, Irisarri, Mackenna, Argomedo und Henríquez mussten ins Exil gehen.
Als die Nachricht darüber das Heer in Talca erreichte, waren die Offiziere empört. O’Higgins marschierte umgehend mit seinen Truppen nach Santiago, um Carrera zu stürzen. Doch er scheiterte und zog sich nach kurzer, verlorener Schlacht nahe Las Tres Acequias wieder zurück.
Die Katastrophe von Rancagua
Aus dem Süden wurde gemeldet, dass erneut ein spanischer General, Mariano Osorio mit einem weiteren Heer Richtung Santiago anrückte. General O’Higgins erkannte den Ernst der Lage und beschloss sich dem Diktator Carrera zu unterwerfen, um mit ihm gemeinsam gegen die Spanier zu kämpfen. Er übergab Carrera die Befehlsgewalt über die chilenischen Streitmächte. Den Truppen von Osorio wollten sie in Rancagua begegnen. O’Higgins übernahm mit der ersten Division die Verteidigung der kleinen Villa und organisierte die Abwehr. Juan José Carrera wurde mit der Führung der zweiten Division beauftragt. José Miguel sollte dann mit der dritten Division – kommandiert von seinem Bruder Luis – als Verstärkung einrücken.
Am 1. Oktober 1814 kam es schließlich zum Gefecht: Osorio belagerte mit seinem Heer von 5.000 Soldaten O’Higgins, der mit 1.700 Mann auf der Plaza de Armas in Rancagua standhielt. Die Schlacht dauerte anderthalb Tage. Die Chilenen verteidigten sich standhaft und wehrten sich lange Stunden gegen die «Realistas». Doch die dritte Division hielt ihr Wort nicht: Luis Carrera erreichte das Schlachtfeld nie, obwohl sich sein Lager in der Nähe befand. Nur ein kleines Bataillon näherte sich, zog sich jedoch bald wieder zurück. Die beiden Carreras ließen O’Higgins und seine Leute im Stich. Als es schon keine Aussicht mehr für einen Sieg gab, verkündete O’Higgins den Befehl zum Rückzug. Doch nur noch den wenigsten gelang die Flucht.