Die chilenische Unabhängigkeit (Teil 3)
Von Erwin Ramdohr
Nachdem das Abkommen zwischen José Miguel Carrera und Juan Martínez de Rozas besiegelt war, schien zunächst die verzwickte Situation geklärt zu sein. Doch Carrera wollte der alleinige Herrscher Chiles sein. Um Martínez endgültig aus dem Weg zu räumen, dachte er sich einen hinterlistigen Plan aus. Das Heer in Concepción wurde von Santiago aus bezahlt. Carrera ließ nun einfach die Löhne mit großer Unregelmäßigkeit auszahlen, um die dortigen Soldaten mürbe zu machen. Als er schließlich einen Oberst in das Regiment im Süden sandte, fiel es diesem leicht, die Soldaten zu einem Aufstand aufzuwiegeln und die «Junta de Gobierno de Concepción» wurde binnen kurzer Zeit gestürzt.
Inzwischen wurde Martínez gefangen genommen und nach Santiago gebracht, von wo aus er bald von Carrera nach Mendoza ins Exil geschickt wurde. Ein Jahr später starb Martínez in seinem Geburtsort – von seinem machtsüchtigen Logenbruder niederträchtig verraten.
Die Liberalen und Freimaurer waren außer sich. Carrera hatte sie belogen und dann ausgeschlossen. Auch wenn ihre Reformen weiterhin gültig waren, konnten sie nichts mehr selbst entscheiden. Chile wurde von einem Diktator beherrscht, die Republik und ihre Demokratie konnten nicht verwirklicht werden. José Miguel Carrera hatte seinen Eid der Loge gegenüber gebrochen. Das konnten seine Logenbrüder ihm nicht verzeihen.
Entwicklungen im Jahr 1812
Carrera beteiligte sich wenig an den Regierungsprozessen. Die Behörden arbeiteten fortlaufend ohne seine führende Hand, denn er interessierte sich mehr für sein Heer und erträumte sich in der Streitmacht seinen zukünftigen Ruhm. Die Reformen, die die erste und die zweite «Junta de Gobierno» eingeleitet hatten, blieben von Carrera unangetastet, sodass sie von den Grundzügen her so bestehen blieben, wie von den Liberalen vorgesehen. Das provozierte zwar Kirche und Aristokratie, doch die Zufriedenheit darüber, dass die Liberalen nicht mehr an der Macht waren, überwog.
Die erste chilenische Zeitung, die «Aurora de Chile», erschien zum ersten Mal im Februar 1812 und wurde von dem Freimaurer Camilo Henríquez geleitet. In ihr war der Ansatz der Liberalen klar zu erkennen: Freiheit wurde als höchster Wert dargestellt und die Republik als das Regierungssystem der Wahl hervorgehoben.
Es war wohl die beste Zeit im Leben José Miguel Carreras. Er fühlte sich wie ein König. Die chilenischen Einwohner betrachtete er als seine Untertanen und er regierte je nach seiner momentanen Stimmung. Aber nicht alle waren mit seiner Herrschaftsweise einverstanden, am wenigsten die Freimaurer und die Liberalen. Die Herrschaft des Diktators war für sie untragbar. Zur Feier des 18. Septembers, die wegen Regen erst am 30. des Monats erfolgte, ließ er einen prächtigen «Sarao» – ein Fest – im Palast der «Moneda» organisieren. Er wollte sich mit dieser Geste im besten Licht zeigen, die gesamte höhere Klasse Santiagos wurde eingeladen. Doch sehr viele Bürger blieben der Feier fern, um dem Herrscher ihre Missbilligung zu zeigen.
Carrera ließ eine Verfassung ausarbeiten, die eine zeitweilige Unabhängigkeit von der spanischen Krone rechtfertigte, solange der König in Gefangenschaft war. Außerdem befreite die neue Verfassung Chile von allen ausländischen Gesetzgebungen und garantierte den chilenischen Bürgern verschiedene Rechte. Die unklare Formulierung sprach auch den Mitgliedern der damals regierenden «Junta» das Recht zu, weiterhin zu herrschen. Erst nach deren Tod oder Abdankung würden Neuwahlen stattfinden können. Das neue Regelwerk wurde der Bürgerschaft aufgezwungen: Jeder Bürger musste mit seiner Unterschrift zustimmen. Wer sich widersetzte, wurde von den Anhängern Carreras gefoltert, bis er sich fügte. So blieb Carrera als konstitutioneller Diktator an der Macht.
Der erste Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier 1813
Die Lage änderte sich schon bald. Dem Vizekönig in Lima missfiel die politische Lage in Chile und bevor sich diese weiter zuspitzte, stellte er ein Heer unter der Führung von Admiral Antonio José Pareja zusammen, das schon nach kürzester Zeit – im Januar 1813 – in Talcahuano von Bord ging. Der Krieg war ausgebrochen. Die Zeiten von Freiheit und Unabhängigkeit gingen somit zu Ende.
Während die Chilenen dem Krieg bekümmert entgegen sahen, war für José Miguel Carrera die Zeit des Ruhmes gekommen. Sobald er von der Ankunft Parejas informiert wurde, verließ er seinen Posten in der Regierung, ließ sich kurzfristig von seinem älteren Bruder Juan José vertreten und begab sich schnellstens – gemeinsam mit einem kleinen Trupp – in den Süden, um die Verteidigung vorzubereiten. Er hatte sich selbst zum General und Chefkommandanten ernannt und auch seine Brüder innerhalb der Heereshierarchie befördert. Sein jüngerer Bruder Luis kommandierte einen weiteren Teil des Heeres, der einige Tage später seinen Weg in den Süden antrat. Währenddessen hatte Pareja die Stadt Concepción erobert und bereitete sein Heer darauf vor, sobald wie möglich in den Norden zu ziehen. Schließlich verließ auch Juan José Carrera die Regierung, um in den Kampf zu ziehen. Der Senat musste nun den Regierungsausschuss neu organisieren.
Krieg als Spielraum zum Regieren
Die Lage entwickelte sich günstig für die Freimaurer, denn die Brüder José Miguel Infante und Francisco Antonio Pérez blieben Mitglieder des Regierungsausschusses und im Senat weilten die Logen-Brüder Camilo Henríquez, Juan Egaña und Gaspar Marín. So kam es, dass sie wieder eigene Entscheidungen treffen konnten. Während im Süden Kämpfe ausgefochten wurden, nutzten sie ihre Zeit zum Ausbau der republikanischen Institutionen und für verschiedene Reformen, durch die sie ihre Ideale zu verwirklichen suchten.
Die universale Erziehung aller Kinder und Jugendlichen war von jeher eines der wichtigsten Ziele der Freimaurer, und sie nutzten die Abwesenheit des Diktators aus, um ihre Absichten umzusetzen. Das erste «Erziehungsgesetz» wurde am 18. Juni verkündet, laut dem in allen Städten und Dörfern Chiles Schulen gegründet werden sollten. Außerdem wurde am 23. Juni eine Verordnung für die Pressefreiheit veröffentlicht, für deren Umsetzung der Logen-Bruder Juan Egaña ernannt wurde.
Im Süden fand derweil ein ungleicher Krieg statt. Im spanischen Heer gab es viele Veteranen, die sehr kampferfahren waren. Im chilenischen Heer hingegen waren in der Überzahl eher unerfahrene Soldaten. Der einzige, der in einer Militärschule studiert hatte, war der Freimaurer John Mackenna – ein Ire, der in Spanien gelebt hatte. Der selbsternannte General Carrera war nur drei Jahre beim Militär in Spanien gewesen und hatte dort lediglich den Grad eines Oberleutnants erreicht.
Es kam zu verschiedenen kleinen Schlachten, die mit einem nicht sehr deutlichen Erfolg der Chilenen endeten, aber keinen endgültigen Triumph bedeuteten. Schließlich begann die lange Belagerung der Stadt Chillán, wo sich das spanische Heer einquartiert hatte. Der harte Winter, der in diesem Jahr herrschte, erlaubte den Chilenen jedoch nicht einen Sieg zu erzielen. Sie mussten sich zurückziehen.
Fortsetzung folgt