Von Dietrich Angerstein
Geographie war seine große Leidenschaft: Der aus der Uckermark stammende Wissenschaftler Hans Steffen leistete mit seinen Forschungen einen wichtigen Beitrag für Chile. Insbesondere durch seine Expeditionen in den 1890er Jahren und seine Studien über Patagonien trug er dazu bei, den Grenzkonflikt zwischen Chile und Argentinien beizulegen.
Eine Fahrt auf der «Carretera Austral» ist nach wie vor ein Erlebnis. Obwohl sie vielleicht heute ein wenig den Reiz jener Jahre verloren hat, als es noch ein echtes Abenteuer war, man mit primitiven Flößen über Flüsse gesetzt wurde und in ebenfalls primitiven hölzernen Behausungen zu übernachten gezwungen war, dort wo noch kein Wasser aus der Leitung kam, man des Abends jedoch gemütlich am Feuer vor einem Kamin saß und alten Erzählungen voller unheimlicher Begebenheiten der Einheimischen lauschen konnte.
Aber vielleicht wird sich der Reisende wundern, nur wenige Kilometer hinter Maniguales, nach der Abzweigung in Richtung Villa Ortega – die der Chronist empfiehlt, obwohl nicht durchgehend asphaltiert, aber dennoch landschaftlich beeindruckend – eine Brücke über einen Fluss zu finden, der den stolzen Namen «Rio Emperador Guillermo» trägt, eigentlich ganz ausgeschrieben «Rio Emperador Guillermo II.». Da darf man wohl fragen: Wie kam Kaiser Wilhelm II. zu der Ehre, einem verhältnismäßig kurzen Flüsschen im fernen Patagonien seinen Namen zu geben? Nun, die Antwort ist einfach: Der Fluss wurde am Tage des Geburtstages von Wilhelm II, nämlich am 27. Januar von dem deutschen Geographen Friedrich Emil Hans Steffen im Jahre 1897 entdeckt und um das Register vollzumachen, bekam ein weiter im Osten liegender Berg – der auch gleichzeitig Grenzstein ist – den Namen des letzten deutschen Herrschers.
Studium in Berlin und Halle – Berufung nach Chile
Das führt uns zu Hans Steffen, der vieles für Chile – und das zu Lasten seiner Gesundheit – geleistet hat und leider, wie so oft im Leben, beinahe in Vergessenheit geraten ist. Hans Steffen wurde am 20. Juli 1865 in Fürstenwerde in der Uckermark als Sohn des Dr. Karl Emil Steffen und seiner Frau Anna Luisa geborene Hoffmann geboren. Wenig später zog die Familie nach Charlottenburg, das damals noch nicht zu Berlin gehörte. Dort besuchte er das Berliner Kaiserin-Augusta-Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er in der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität), die ihm die Möglichkeit bot, Vorlesungen des Geographen Ferdinand von Richthofen zu hören. Es war die gleiche Universität, an der einst Alexander von Humboldt gelehrt und an der Rudolph Amandus Philippi promoviert hatte. Später zog es Hans Steffen nach Halle, dort promovierte er unter dem Geographen Prof. Alfred Kirchhoff mit einer geographischen Studie über Unterfranken.
In jenen Jahren vollzogen sich in Chile gewaltige Veränderungen. Präsident José Manuel Balmaceda, bemüht das Schulwesen im Lande gründlich zu verbessern, hatte das «Instituto Pedagógico» an der Universidad de Chile neu gegründet und dazu sachkundige Professoren aus Deutschland berufen. So gelangte Hans Steffen zusammen mit Friedrich Hanssen, Friedrich Johow, Rudolf Lenz, deren Nachfolger noch heute in Chile leben, und drei anderen Professoren nach Chile. Sie waren die ersten Lehrer, die Oberstufenlehrer in Chile ausbildeten. Die Gruppe erreichte Chile im Jahre 1889 und nahm sofort ihre Lehrtätigkeit auf. Hans Steffen belegte als Dozent die Fächer Geschichte und Geographie.
Aus Berichten seiner damaligen Studenten kann man heute schließen, dass ihm die Geographie weitaus mehr am Herzen lag, als die trockene Geschichte des Altertums. So pflegte Steffen, kaum hatte er das geschichtliche Pensum erledigt, vom Katheder aufzustehen und frei vortragend und zwischen den Studenten gehend, mit großer Anschaulichkeit lebhaft seine geographischen Erkenntnisse vorzutragen. Der Wissenschaftler verstand es, seine Hörer mitzureißen – besonders da Chile auf diesem Gebiet noch Neuland war. Es war eine ungewohnte Art des Unterrichtens in jenen Tagen.
Mehr als nur Lehrer
Weit mehr als für seine akademische Lehrtätigkeit interessierte sich Steffen von Anfang an für die geographische Forschung und begann auch bald mit der Organisation eigener Expeditionen. Zu seinen Vorbereitungen gehörte das Studium historischer Quellen wie zum Beispiel von Berichten über Missionsreisen der Jesuiten aus dem 18. Jahrhundert, denn nicht zu vergessen ist, dass es Jesuiten waren, die, in Chiloé beginnend, Expeditionen in die weiter südlich liegende Inselwelt und das patagonische Festland entsandten. Seine erste Expedition führte Steffen zum Vulkan Osorno und weiter an der Kordillere entlang; er stellte einen geographischen Zusammenhang der Vulkantätigkeit vom Lago Todos los Santos, über den Seno Reloncaví bis zum Vulkan Hornopirén und weiter bis zum Canal Comau fest. Es dauerte dann 75 Jahre, bis diese strukturalen Erdbrüche bestätigt wurden.
Als ab 1879 Chile mit Bolivien und Peru im Krieg lag, dem sogenannten Pazifischen oder auch Salpeterkrieg genannt, also schwer im Norden beschäftigt war, glaubte Argentinien die Gelegenheit sei gekommen, Gebietsansprüche in Patagonien anzumelden. Dabei muss daran erinnert werden, dass vor 1810 von der Verwaltung des spanischen Vizekönigreiches in Lima ganz Patagonien der «Capitanía Chile» zugeschlagen worden war und man diese Grenzen in den Anfangsjahren der Republiken Chile und Argentinien beizubehalten beabsichtigte (uti posseditis-Prinzip). Deutsche Siedler trafen in Puerto Montt (damals Melipulli) nach 1850 ein. Da reichte Chile also noch bis zum Atlantik, die Grenze zwischen Chile und Argentinien auf der Ostseite der Kordillere bildete der zum Atlantik fließende Rio Diamante.
Streit um die Grenze: Ist Patagonien argentinisch?
Die Grenzstreitigkeiten drohten sich auszuweiten, bis es im Jahre 1881 zu einem Vertrag kam, der die Grenze zwischen Chile und Argentinien als «die Wasserscheide, die die höchsten Berge bilden» endgültig festlegte (divortia aquarum). Chile verzichtete auf Patagonien, es muss allerdings hinzugefügt werden, dass die chilenische Öffentlichkeit damals wenig Interesse an Patagonien zeigte. Man empfand dieses weite Land als kalt, windig, unbewohnbar und nutzlos. Der Vertrag sollte Frieden bringen, aber leider trat bald das Gegenteil ein. Denn ganz besonders in Patagonien sind die Berge nicht immer die Wasserscheide; letztere liegt nämlich oft zugunsten Chiles weiter im Osten. Schon begannen Säbel zu rasseln. Da gelang es besonnenen Politikern, Königin Victoria von England als Schiedsrichterin anzurufen und man unterwarf sich ihrem Urteil.
Hans Steffen konnte den Leiter der chilenischen Grenzkommission Diego Barros Arana von seinen geographischen Kenntnissen und seinen Vorstellungen überzeugen und dieser beauftragte ihn, in den folgenden Jahren sieben Expeditionen durch Patagonien auszurüsten und durchzuführen. Durch diese Forschungsreisen und zahlreiche Publikationen wurde Steffen zu einem hervorragenden und beachteten Experten für West-Patagonien, der von anderen Chile-Reisenden wie Charles Darwin oder auch Alexander von Humboldt auf eine Stufe gestellt wird.
Im Oktober 1899 wurde Steffen zum wissenschaftlichen Beirat der chilenischen Grenz-Kommission berufen und begleitete diese nach London, wo seine Kenntnisse der topographischen Beschaffenheit Patagoniens der chilenischen Position erheblichen Nachdruck verliehen. Danach begleitete Steffen als Vertreter Chiles den britischen Gesandten des Schiedsgerichtes Sir Thomas Holdich auf dessen Inspektionsreise durch Patagonien, gemeinsam mit dem argentinischen Vertreter Francisco Moreno, dessen Name als «Perito Moreno» heute in vielen Ortsnamen und Straßenschildern auf der argentinischen Seite der Grenze verewigt wurde, während der Name Hans Steffen auf der chilenischen Seite mehr geographischen Besonderheiten gewidmet wurde. So heißt zum Beispiel nach ihm der Lago Steffen oder der Glaciar Steffen im «Campo de Hielo Norte». Der Schiedsspruch von Königin Victoria fiel dann im November 1902, die Streitigkeiten fanden vorerst ein Ende.
In den folgenden Jahren widmete sich Hans Steffen weiter der Forschung und veröffentlichte zahlreiche Schriften über Patagonien und den Prozess der Festlegung der Grenze Chile – Argentinien. Sogar noch im 21. Jahrhundert vergeht kaum ein Jahr, in dem eines seiner Schriften nicht wieder herausgegeben oder gar in einer anderen Sprache außer in Deutsch oder Spanisch neu verlegt wird. In Berlin verwaltet das Ibero-Amerikanische Institut das umfassende wissenschaftliche Werk Steffens und sein Erbe.
Die zahlreichen Expeditionen unter den damaligen Verhältnissen, in einem menschenleeren Land, bei ständig feuchter Witterung ohne schützende Unterkunft, stets Regen und Kälte ausgesetzt forderten ihren Tribut. Hans Steffen erkrankte an der Lunge, sah sich gezwungen, Chile zu verlassen und in dem damals bekanntesten Lungenkurort Davos in der Schweiz, Wohnung und Heilung zu suchen. Er starb im Sanatorium Clavadel bei Davos am 7. April 1936.
Heimkehr nach Chile
Zwei Schweizer Bergsteigern, dem Ehepaar Silvia Metzeltin und Gino Buscaini, gelang es vor Jahren, das vergessene Grab Steffens in einem kleinen Ort nahe Davos ausfindig zu machen. Da beide mehrfach Bergbesteigungen in Patagonien durchgeführt, dabei großes Interesse an Hans Steffen entwickelt hatten und seine Werke kannten, setzten sie sich mit der Unterstützung von Mateo Martinić, Direktor des «Instituto de la Patagonia» in Punta Arenas, dafür ein, dass die Urne nach Chile überführt wurde. Im November 2006 wurde sie in einem eigens errichteten Mausoleum im Friedhof «El Claro» in Coyhaique beigesetzt, genau da, wo es Hans Steffen zu Lebzeiten gewünscht hatte.