Liberale Reformen und Spaltung der Bevölkerung
Von Erwin Ramdohr
Die chilenische Geschichte, so wie sie die meisten Chilenen von der Schule her kennen, ist oft nicht vollständig. Über vieles wurde nicht gesprochen wie zum Beispiel die Rolle der katholischen Kirche und dass es die Liberalen und Freimaurer waren, die unsere Unabhängigkeit geplant und vollzogen hatten.
Ursprung
Die Unabhängigkeitsbewegungen in den spanischen Kolonien begannen Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch ihr wahrer Ursprung ist schon in der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts zu finden, in der sogenannten «Aufklärungszeit», im «Jahrhundert der Lichter» (nach «Siècle des Lumières» von Jean-Baptiste Dubos 1732). Es war in jener Zeit, in der sich die Bevölkerung in den nordeuropäischen Ländern von dem intellektuellen Joch der katholischen Kirche teilweise befreite und die Freiheitsdenker endlich ihre Ideen laut aussprechen konnten. Dies hat dazu beigetragen, dass es zu einem wahren Wandel in der Denkweise kam. Die Menschen sahen künftig die Wirklichkeit mit anderen Augen und ließen sich ihre Sichtweise nicht mehr nur von der Kirche vorschreiben.
Das heißt, der chilenische Unabhängigkeitsprozess schrieb sich vor allem die Freiheit auf die Fahnen sowie vorher sowohl die Nordamerikanische Revolution als auch die Französische Revolution.
Die Freimaurer
Auch wenn in Spanien die katholische Kirche eine enorme Macht ausübte, über die spanische Monarchie vollkommen dominierte und alle Freiheitsbewegungen schnellstens durch ihre Inquisition verfolgen ließ, so haben mutige Männer es doch gewagt, Geheimbünde zu bilden, um ihre Ideen an das Volk weiterzutragen. Es waren die Freimaurer. Ihr erstes Ziel war es, den Absolutismus abzuschaffen und den König einer Verfassung zu unterwerfen. In vielen Städten und Regimentern wurden Logen gegründet, deren Brüder in der «profanen Welt» – das heißt, außerhalb ihrer Tempel – ihre Grundideen zu verbreiten suchten.
Mehrere junge Kreolen, wie sich die in den Kolonien geborenen Leute nannten, die zu der Zeit nach Spanien gereist waren, haben dort diese neuen Ideen der Geistesfreiheit kennengelernt und waren in spanische Logen aufgenommen worden. Sie brachten die Idee der Logen nach Amerika, wo sie durch Bildung von Geheimbünden ihre Ideale an die jungen Männer der Oberschicht weitergaben. Das wichtigste Ziel dabei war, ein Grundgesetz zu erlangen, das die Macht der Monarchie einschränken sollte.
Der wichtigste Vordenker dieser Bewegung war Francisco de Miranda, ein brillanter Venezolaner, der in den Vereinigten Staaten die Gründungsväter Washington, Adams und Jefferson kennengelernt hatte und von ihnen in das Freimaurerwesen eingeführt worden war. Er gab schließlich diese freiheitlichen Ideen an viele junge Südamerikaner weiter, die dadurch inspiriert wurden.
Auch wenn in den Kolonien niemand in jener Zeit an die Unabhängigkeit dachte, so war doch die Stimmung der Kreolen gegenüber den Spaniern sehr schlecht. Sie fühlten sich verachtet und diskriminiert. Bei ihren Geschäften, die sie nur mit Lima, der Hauptstadt des Vizekönigreiches Peru, führen durften, wurden sie immer mehr benachteiligt. Das politische Klima für eine Auflehnung gegenüber der Krone nahm daher jeden Tag zu.
Dann ereignete sich ein überraschender Moment, in dem sich dieser Prozess beschleunigte. Es geschah im Jahr 1808, als Napoleon den jungen König Ferdinand VII. gefangen nahm und Joseph Bonaparte auf den spanischen Thron setzte. Dies führte dazu, dass sowohl in Spanien als auch in den Kolonien, die jeweiligen Einwohner der Provinzen die Macht in ihre Hände nahmen, um – scheinbar – die Souveränität des legitimen Königs zu bewahren.
Während der Zeit von König Ferdinands Gefangenschaft von 1808 bis 1813 setzten sich die spanischen Freimaurer an einen Tisch, um eine Verfassung zu schreiben, die im Jahr 1812 vom Parlament genehmigt wurde. In den Kolonien nutzten sie ihre Zeit, um die Mitbürger von der Unabhängigkeit von der spanischen Krone zu überzeugen, was in Chile schließlich im Jahr 1810 erfolgte.
Die erste «Junta de Gobierno» am 18. September 1810
In Chile wurde im Juli 1810 der letzte spanische Gouverneur Francisco García Carrasco von der Gemeinde abgesetzt und der greise General Mateo de Toro y Zambrano kam an die Macht. Dies hatten die Freimaurer geschickt eingefädelt, um zwei Monate später – am 18. September 1810 – während einer Gemeinderatssitzung, dem «Cabildo Abierto», die erste «Junta de Gobierno» von den ungefähr 400 Bürgern von Santiago wählen zu lassen.
Dies war der erste offensichtliche politische Sieg der patriotischen Liberalen und Freimaurer, die nicht mehr als ein Zehntel der wahlberechtigten Santiaguiner ausmachten. Zum ersten Mal wurde in diesem Gebiet des Königreiches eine demokratische Regierungswahl durchgeführt. Schon am Tag zuvor hatte man sich auf die Namen der Kandidaten für diesen Regierungsausschuss geeinigt. Alles lief nach Plan. Als Präsident wurde der altersschwache Mateo de Toro y Zambrano ernannt, als sein Vizepräsident, der noch ältere Bischof José Antonio Martínez de Aldunate. Ignacio de la Carrera wurde Repräsentant der Santiaguiner Gemeinde und Fernando Márquez de la Plata Vertreter der Spanier. Außerdem wurde der Freimaurer Juan Martínez de Rozas als Repräsentant der Gemeinde von Concepción ernannt. Francisco Javier de Reina und Juan Enrique Rosales, auch ein Freimaurer, wurden weitere Mitglieder der «Junta de Gobierno». Sekretäre wurden die Freimaurer Gaspar Marín und José Gregorio Argomedo und als Prokurator wurde der Freimaurer José Miguel Infante bestimmt.
Wie bereits geschildert, hatten von dem Moment an die Patrioten eine wichtige Position in der soeben geborenen Republik Chile inne, auch wenn die Republik noch nicht öffentlich ausgerufen worden war.
Der erste Regierungsausschuss
Die Freimaurer gingen schnellstens an die Arbeit, da die restlichen Mitglieder der Junta unfähig waren, ein Land zu regieren. Der alte Präsident Toro schlief während den Sitzungen ein. Die anderen waren nur an Äußerlichkeiten interessiert wie Titel und Feierlichkeiten. So sah die Situation aus, als Juan Martínez de Rozas die Führung übernahm. Er war ein sehr begabter Anwalt, der die Ideale der Freimaurer in kürzester Zeit durchsetzte. Er war der wichtigste Mann Chiles in diesem Augenblick.
Schon im Oktober, nur einen Monat nach der Einführung der Junta, präsentierte Juan Egaña ein vollständiges Programm für die neue Regierung. Dann im November arbeitete der Freimaurer John Mackenna ein Projekt für die chilenischen Streitkräfte aus. Im Dezember veröffentlichte Juan Martínez de Rozas die Wahlverordnung, und schon im Februar 1811 wurde die Handelsfreiheit verkündet. Die Freimaurer hatten in fünf Monaten eine unglaubliche Reform durchgesetzt und damit einen großen Wandel der chilenischen Gesellschaft vollzogen. Dies würde bald Folgen nach sich ziehen, denn die Neuerungen waren hinter dem Rücken der kolonial gesinnten Bürger geschehen. Das konnten sie nicht akzeptieren und für viele war die neue Situation untragbar.
Und so, in weniger als einem Jahr, spaltete sich die chilenische Gesellschaft in drei unterschiedliche Teile: Die republikanischen Patrioten, die «Patriotas», daneben die Unentschlossenen, die «Moderados» sowie die Monarchisten, die «Realistas». Diese Spaltung führte sehr schnell zu heftigen Konfrontationen, die sehr lange dauern würden: auf der einen Seite die frei denkenden Liberalen und auf der anderen die konservative katholische Kirche und ihre Anhänger.
Fortsetzung folgt…