Der letzte Glockenschlag

Von Arne Dettmann
Und dann schlägt die Glocke zum letzten Mal. Das Messing farbene, maritime Schmuckstück hing drei Jahrzehnte im Flur und wurde von meinem Vater immer geläutet, wenn´s am Wochenende Essen gab. Dann rannte ich aus meinem Zimmer die Treppen herunter und stürzte hungrig in die Stube. Doch die Teller sind längst abgeräumt, das ganze Haus steht gähnend leer, ein befremdlicher Anblick. Die neuen Besitzer halten bereits die Schlüssel in der Hand, ich schwinge den Klöppel, noch einmal schallt die Schiffsglocke als eine Reminiszenz an die Vergangenheit. Wem die Stunde schlägt. Sie schlägt nun mir.
Fünf Monate liegen zwischen dem Tod meines Vaters und dem Verkauf des elterlichen Hauses. Fünf Monate, die einen Abschied auf Raten bedeuteten. Von der Entscheidung, das einstige Zuhause zu veräußern, bis zur endgültigen Unterschrift unter den Notarvertrag. Blumenvasen und Werkzeugkeller, Küchenbesteck, die Eulensammlung meiner vor fünf Jahren verstorbenen Mutter, Bildbände, Handtücher und Bettwäsche, Konservenbüchsen und viel zu süße Weißweine aus der Vorratskammer, ebenso die Schlager-CD-Sammlung: Alles geht durch meine Hände, ich bin Einzelkind, wochenlang sortiere ich, schmeiße weg, erinnere mich.
Ein deutscher Freund in Chile hatte mich vorgewarnt. Am Anfang kostete ihn es Überwindung, die persönlichen Gegenstände seiner Eltern anzutasten. Mir erging es ähnlich. Die letzte kindliche Ehrfurcht vor dem Vater macht das Aufziehen seiner Nachttischschubladen zu einer peinlichen Indiskretion. Voller Scham murmle ich ein entschuldigendes «permiso» und durchwühle wie ein Einbrecher den Inhalt. Auch das Durchforsten des Kleiderschranks wird zu einem Eiertanz zwischen taktvoller Rücksichtnahme und unvermeidbaren Urteilsfällung. Was bloß tun mit Vaters Hosen und Krawatten? Mit einem Plastikbeutel für die Hamburger Kleiderspende stehe ich vor dem riesigen Schlafzimmerungetüm und muss mir für jedes Teil die Antwort selbst geben. Denn es wird niemand mehr kommen, der dir sagt, was du zu tun hast. Eine banale Erkenntnis? Ja, und doch ziemlich bedrückend.
Zweite Erkenntnis: Ein Ding ist niemals nur ein Ding, sondern immer auch eine Geschichte, die wir damit verbinden. Vaters penibel geordnete Werkzeugkisten und Ersatzteillager erzählen nicht nur von einem Menschen, der mit übertriebener, kleinlicher Genauigkeit Herr seiner Welt sein wollte. Wiederverwertete Schrauben, Nägel, Gummiventile, Unterlegscheiben sowie Sechskantmuttern und Schnürsenkel künden auch von einem Mann, der im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen war. Das Kind, das damals in den Ruinen der zerbombten Hansestadt spielte, kannte weder prall gefüllte Baumärkte noch Amazon. Mangel statt Überfluss blieb die prägende Erfahrung bis ins hohe Alter. Auch Änderungen in seinem Adress- und Telefonbuch nahm er mit unzähligen Überklebschnipseln vor, statt sich ein neues Heft zu gönnen. Das wäre Verschwendung gewesen.
Glücklicherweise muss er den Verkauf der Möbel nicht mehr miterleben. Denn hier kommt die dritte bittere Erkenntnis: Unsere Dinge haben nur den Wert, den wir ihnen selbst geben. Als sich meine Eltern Ende der 80er Jahre die nicht gerade billige Schlaf- und Wohnzimmereinrichtung leisteten, war das sicherlich auch ein Akt der Selbstvergewisserung. Sie arbeiteten viel, wollten sich für das Geleistete etwas gönnen, eine Anerkennung in Form von Teakholz und Nussbaum. – Für andere ist dieser einstige Wohlfühl-Stolz heute nur noch nutzlos und ohne jede Bedeutung.
Einen Teil der Einrichtungsgegenstände kann ich über den Internet-Flohmarkt Ebay an die Frau und den Mann bringen – allerdings für ´n Appel und n´ Ei, wie es auf Plattdeutsch so schön heißt, also verdammt billig. Denn Sofa, Betten und Co. sind zwar in einem tadellosen Zustand, doch außer Mode. Kaum jemand möchte einen klotzigen TV-Sessel haben, auch ich nicht. Leicht-dezente Ikea-Sitzgelegenheiten stehen in unserer eigenen Wohnung, die sind heute eher gefragt. Und so landen viele Möbel meiner Eltern in den Müll-Containern eines staatlichen Recyclinghofs. Deutschland ist ein reiches Land, lebt vom Konsum neuer
Dinge statt alter Ware. Den Wohnzimmerschrank biete ich schließlich als Geschenk an – Fehlanzeige, niemand meldet sich.
Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen. Jedenfalls haben meine Eltern weder Lampen, Regale noch Tiefkühlschrank, Kommoden und die Schleifmaschine mit ins Grab genommen. Und so frage ich mich immer häufiger, welchen Sinn es überhaupt hat, Dinge zu horten, die nur alle paar Jahre einmal unter dem gespannten Blick der gesamten Weltöffentlichkeit aus dem hintersten Schrankwinkel herausgeholt werden. Die alte Geldmünze aus der deutschen Kaiserzeit ist so ein Beispiel. Ich verkaufe das Erbstück. Denn wenn ich es nicht tue, dann machen es eines Tages vielleicht meine Söhne, wenn mich der grüne Rasen deckt.
Was bleibt, sind Erinnerungen. An laue Sommernächte auf der Terrasse, die ich nun zum letzten Mal fege. An das Heckeschneiden im Garten und den Rasen, den ich jetzt noch einmal mähe und auf dem ich völlig übermüdet lag, nachdem ich das erste Mal während meiner Bundeswehrzeit aus der Kaserne wieder nach Hause durfte. Zwölf Jahre habe ich hier unter dem Dach meiner Eltern gelebt. Und selbst später noch, während meiner 14 Jahre in Chile, war dieser Ort immer eine Art Anker, ein Heimathafen, den man gerne ansteuerte.
Und dann steht das Haus auf einmal leer. Zunächst habe ich Angst, die Immobilie selbst zu verkaufen. Zu viele Gefühle sind damit verbunden. Doch schließlich kommt die Einsicht, diesen endgültigen Schritt nicht einem emotionslosen Makler zu überlassen. Nein, der Respekt gegenüber den Eltern verlangt, dass der Sohn die Sache auch zum Abschluss bringt. Und so führe ich potenzielle Käufer durch ein Museum ohne Objekte, seltsam kalt. Nur ich sehe, was sie nicht sehen.
Der Klang des Läutens ist verhallt. Ich verlasse zum letzten Mal das Grundstück und drehe mich lieber nicht mehr um. Die Glocke hängt nun in unserer Wohnung.