Fast 80 Prozent der Wähler für neue Verfassung
Von Silvia Kählert
78,27 Prozent stimmten für ein «Apruebo» bei der ersten Frage der Volksabstimmung: «¿Quiere usted una Nueva Constitución?» (Wollen Sie eine neue Verfassung?), wie die Wahlbehörde Servel am Montag, 26. Oktober, nach Auszählung der Stimmen mitteilte. Während für ein «Rechazo» 21,73 Prozent stimmten.
Frauen und Männer entscheiden über neue Verfassung
Bei dem Referendum ging es auch darum, ob die Hälfte des Gremiums, die die Verfassung ausarbeitet, aus Parlamentariern oder eine verfassungsgebende Versammlung komplett aus eigens dafür zu wählenden Delegierten bestehen soll. Bei der Frage «¿Qué tipo de órgano debiera redactar la Nueva Constitución?» entschieden also die Wähler, wer eine neue Verfassung entwerfen wird: die gemischte Versammlung sollte sich aus insgesamt 172 Mitgliedern zusammensetzen, eine Hälfte Abgeordnete und die andere Hälfte Bürger. Oder es konnte für eine reine Bürgerversammlung mit 155 Mitgliedern gestimmt werden, die für diese Aufgabe gewählt werden müssen. In beiden Fällen sind Quoten für indigene Gruppen vorgesehen. Die große Mehrheit von 79 Prozent stimmte für eine reine Bürgerversammlung statt einer gemischten Kommission aus Bürgern und Parlamentariern. Die Delegierten werden nun am 11. April 2021 gewählt. Nach spätestens einem Jahr sollen sie einen neuen Verfassungsentwurf vorlegen, über den die Chilenen wiederum in einem Referendum im Jahr 2022 abstimmen. Beispiellos in der Geschichte weltweit wird sein, dass zum ersten Mal eine Verfassung zu gleichen Teilen von Männern und Frauen ausgearbeitet wird.
Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent
Die Wahlbeteiligung lag bei 50,8 Prozent, also rund siebeneinhalb Millionen der fast 15 Millionen wahlberechtigten Bürger stimmten ab. Das ist in Chile ein relativ hoher Wert, wenn man außerdem bedenkt, dass möglicherweise die Pandemie Menschen hinderte an die Urnen zu gehen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 wählten von den 14.308.000 wahlberechtigten Chilenen 46,6 Prozent, in der zweiten Runde waren es rund sieben Millionen Menschen, also 49 Prozent.
Ursprünglich war das Referendum für April angesetzt, wegen der Corona-Krise wurde die Abstimmung jedoch auf Oktober verschoben. Eine erste Auszählung gab es bereits aus Neuseeland, wo Auslands-Chilenen abstimmten. Dort fiel das Ergebnis eindeutig aus: 798 Wähler stimmten für eine neue Verfassung, nur 57 dagegen.
Die mehr als 2.700 Wahllokale in ganz Chile hatten am Sonntag von 8 Uhr und bis 20 Uhr geöffnet. Es waren für die Wahlen Hygienebestimmungen vorgesehen, die beim Eingang als auch in den Wahllokalen genau kontrolliert wurden. Vereinzelt bildeten sich so lange Schlangen, dass es schwierig war, den Hygiene-Abstand einzuhalten. Um gefährdete Menschenwie ältere Bürger zu schützen, waren drei Stunden für ihre Stimmabgabe vorgesehen. Alle Geschäfte waren am Sonntag geschlossen.
«Rahmen für Einigkeit, Stabilität und Zukunft»
In Santiago strömten bereits vor Schließung der Wahllokale Zehntausende zur Plaza Baquedano, um das Wahlergebnis zu feiern. Vor einem Jahr begannen hier über eine Million Chilenen auf die Straße zu gehen und für soziale Reformen zu protestieren. Die Proteste gipfelten in der Forderungen nach einer neuen Verfassung. Auch in anderen Städten Chiles feierten Tausende Menschen friedlich miteinander das Wahlergebnis. Angesichts der Gewalt, die mit den sozialen Protesten ab Oktober einhergegangen waren, wie die zu 80 Prozent beschädigte und zerstörte U-Bahn, und eine Woche vor dem Referendum, am Jahrestag des Beginns der Proteste, der Brand von zwei Kirchen in Santiago, waren weitere Ausschreitungen befürchtet worden. Es lieferten sich Demonstranten allerdings am Rande der Feiern Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie der Radiosender Cooperativa berichtete. Demnach kam es zu Plünderungen und Angriffen auf Polizeiwachen. In ganz Chile sollen am Wahltag 146 Menschen festgenommen worden sein.
Präsident Sebastián Piñera sprach nach Schließung der Wahllokale am Sonntagabend in einer Ansprache von einem Sieg für die Demokratie und die Einigkeit. «Bisher hat uns die Verfassung gespalten», sagte der 70-Jährige. «Dieses Plebiszit ist nicht das Ende, sondern der Beginn des Weges, den wir gehen müssen, um uns auf eine neue Verfassung zu einigen», sagte der Präsident. « Ab jetzt arbeiten wir gemeinsam an einer neuen Verfassung, die den Rahmen für Einigkeit, Stabilität und Zukunft setzen wird.»
Die heutige Verfassung Chiles stammt aus dem Jahr 1980 und wurde unter der damaligen Militärregierung ausgearbeitet. Zwar wurde sie vor allem 1989 und 2005 in zentralen Punkten verändert, dennoch galt sie für viele Chilenen als Symbol für das Regime Pinochets. Außerdem sind viele Bürgerbewegungen und politische Parteien der Meinung, dass nur mit einer neuen Verfassung tiefgreifende Reformen möglich seien. Dazu gehört die Verringerung der Machtbefugnisse bei der Zentralregierung, mehr Einflussnahme von Bürgern, eine stärkere soziale Rolle des Staates und Rechte auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung und Trinkwasser.