Von Silvia Kählert
Manchmal sind gar nicht Generationen nötig, damit es mit der Einheit klappt: Meine Cousine Christina aus Heidelberg und ihr Mann Nils aus Leipzig haben sich 1987 kennengelernt. 2017 haben sie mit ihren drei Söhnen und der Ost- und West-Familie ihre Silberne Hochzeit in Dresden gefeiert.
«Es war nicht Liebe auf den ersten Blick», stellt meine Cousine klar. Auf dem Bahnsteig in Leipzig ist sie ihrem späteren Mann 1987
das erste Mal begegnet.
Ein Aushang in ihrem Heidelberger Gymnasium im Frühjahr 1987 bewog die siebzehnjährige Schülerin den kostenlosen Ausflug über ein verlängertes Wochenende zur Leipziger Messe zu unternehmen. Sie erklärt: «Ich war eine der wenigen meiner Jahrgangsstufe, die keine Verwandten oder sonstigen Kontakte in die DDR hatte. Die Leipziger Messe war natürlich nur ein Vorwand: Sonst konnte man nur mit einem Tagesvisum nach Ostberlin reisen oder man musste jemanden in der DDR kennen, der das Visum für einen beantragte.» Die Erzdiözese Freiburg hatte die Fahrt organisiert. Verschiedene katholische Familien in Leipzig beherbergten die Schüler.
Es entstanden Freundschaften zwischen den Heidelbergern und Leipzigern und weitere Fahrten «zur Leipziger Messe» folgten. Bei einem dieser Wochenenden kam Christina mit anderen Schülern in der «Datsche» im Schrebergarten der Eltern von Nils unter. Nach ihrem Dankesbrief entwickelte sich eine Brieffreundschaft. Wirklich gefunkt hat es in der Silvesternacht 1989/1990 bei einer Feier in einer Hütte in der Sächsischen Schweiz – knapp zwei Monate nach dem Mauerfall.
Und was wäre gewesen, wenn es die Wende nicht gegeben hätte? Da ist meine Cousine ganz realistisch: «Ich wäre jedenfalls ganz sicher nicht freiwillig in die DDR gegangen.»
1993 haben Christina und Nils in Heidelberg geheiratet und leben seitdem in Dresden: «Als wir neulich mal wieder an der Elbe mit dem Rad entlangfuhren, habe ich meinem Mann gesagt, dass ich ihm echt dankbar bin, in dieser schönen Stadt gelandet zu sein.»
Was sie hingegen stört ist, dass ihre Freunde, die im Osten aufwuchsen, meinen, ihr DDR-Begriffe erklären zu müssen: «Zum Beispiel was WBS 70 ist. Das ist ein Plattenbau-Wohnblock aus den 1970er Jahren, in dem meine Schwiegereltern heute noch wohnen. Inzwischen lebe ich im Osten viel länger als ich im Westen gelebt hatte – 90 Prozent der typischen Ausdrücke der DDR kenne ich mittlerweile.» Die Belehrungen geben ihr das Gefühl, immer noch nicht dazuzugehören. Umgekehrt fehlt ihr das Interesse der ostdeutschen Freunde an ihrer eigenen Jugend, «weil sie teilweise meinen, diese zu kennen und dass sie so gewesen wäre, wie bei unseren Kindern heute.»
Rund zehn Prozent der Ehepaare in Deutschland sind Ost-West-Paare, dabei gehören Tina und Nils zu der Minderheit von drei Prozent, bei denen die Frau aus dem Westen, der Mann aus dem Osten kommt und beide im Osten leben. Wie machen sich die getrennt erlebten Erfahrungen bemerkbar? Für die Beziehung birgt dies Konfliktpotenzial und tatsächlich zeigen Studien, dass das Trennungsrisiko bei Ost-West-Paaren größer ist als bei anderen Partnerschaften. Doch es kann auch eine Bereicherung bedeuten – was zum Beispiel die gemeinsamen Kinder angeht, erklärt Christina: «Wir sind mit anderen Indianerhäuptlingen, Sandmännern, Serien, Kinderbüchern aufgewachsen, haben andere Musik gehört. Was davon haben wir unseren Kindern weitergegeben? Am besten beides.» Auch ein wenig stolz feierte das Paar vor zwei Jahren daher mit einem großen Familienfest ihre Silberne Hochzeit.
Was das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen angeht, herrsche dagegen in nicht wenigen Bereichen noch Unwissen und Unverständnis, wie Christina auf ihrem 30-Jahre-Abiturtreffen selbst erlebte: «Da musste ich mich unter anderem rechtfertigen, wa-rum hier in Sachsen in zwölf Jahren das Abitur gemacht wird. Mir wurde bewusst, dass aus diesen zwei Welten, zumindest in meiner Altersgruppe, noch lange keine gemeinsame geworden ist.»