Tagebuch eines Horrortrips
Von Walter Krumbach
Keiner kann es erklären: Patienten erhielten das für sie lebensnotwendige Medikament Kreon das letzte Mal im Februar dieses Jahres. Eine Odysee beginnt.
Bis dahin verteilte der Cenabast (Central de Abastecimiento del Sistema Nacional Servicio de Salud) das Medikament Kreon an Patienten, die an fehlender Funktion der Bauchspeicheldrüse, auch exokrine Pankreasinsuffizienz genannt, leiden. Im März ist es nicht mehr auf Vorrat. Die freundliche Dame am Schalter zuckt mit den Schultern, als ich sie nach dem Warum frage. Erkundigungen bei verschiedenen Ärzten ergeben ebenfalls nichts. Ihr Rat lautet: «Versuchen Sie, in einer Apotheke ein paar Packungen zu kaufen.»
Nach verschiedenen erfolglosen Anfragen gelingt es mir tatsächlich, an das begehrte Medikament heranzukommen. Auch die Apothekenverkäufer scheinen nicht zu wissen, woran die Knappheit liegt oder zumindest tun sie so als ob. Ich versuche, mich beim Vertreter des Herstellers zu erkundigen, was mit der Zustellung los ist. Aber beim Pharmakonzern geht niemand an das Telefon. Langsam werde ich nervös, weil ich auf die Einnahme der Kapseln angewiesen bin wie der Diabetiker auf die Insulinspritze. Wenn ich sie nicht regelmäßig schlucke, kann bald Schluss sein mit dem fidelen Lebenslauf: Aus die Maus!
Da kommt mir ein befreundetes Ehepaar aus Deutschland in höchster Not zu Hilfe. Sie leben in Santiago und beauftragen ihren Sohn in Kassel, die Arznei zu besorgen. Der Vorgang scheint unproblematisch, Kreon ist weltweit rezeptfrei zu haben. Wir vereinbaren, einen Paketdienst zu beauftragen, der nicht gerade billig, aber erwiesenermaßen zuverlässig und schnell ist.
29. Juni: Johannes kauft eine Packung per Internet. Sie ist im Vergleich zum chilenischen Markt um zwei Drittel preiswerter! So ist die gesamte Ausgabe trotz Versandauslagen kostengünstiger, als wenn ich das Mittel in Santiago besorgt hätte.
4. Juli: Das Paket geht mit dem Hinweis ab, dass es voraussichtlich am 9. Juli beim Adressaten eintreffen wird.
17. Juli: Der Spediteur meldet sich aus Santiago mit einem «Aufbewahrungsbescheid»: Der Zoll habe die Sendung zurückgehalten, weil Genehmigungen des Seremi (Avenida Bulnes, Santiago) und des Instituto de Salud Pública (ISP, Avenida Marathon, Ñuñoa) vonnöten seien. Da eine E-Mail-Adresse beigefügt ist, schreibe ich sie sofort an, erläutere den Inhalt des Pakets, betone, weshalb der Empfang eilt und bitte um Informationen über den weiteren Hergang. Dies auch mit dem Hintergedanken, mir in Pandemiezeiten Behördengänge durch die halbe Stadt zu ersparen.
24. Juli: Das Transportunternehmen fordert, dass eine Bescheinigung auszufüllen ist, die vom ISP begutachtet werden muss und fügt den hierzu nötigen Link bei. Ich finde das Formular alsbald, in dem penibel nach allen erdenklichen Einzelheiten des Medikaments gefragt wird, fülle es aus und schicke es ab.
3. August: Der Zoll weist die Unterlagen als «unvollständig» zurück und erbittet die Rechnung der Apotheke. Zum Glück haben mir die Freunde eine Ablichtung des Belegs zukommen lassen. Den sende ich dem Amt unverzüglich zu.
7. August: Der Zoll verlangt eine eidesstattliche Erklärung, in der die Ware erläutert und ihr Wert angegeben wird. Formular liegt bei. Beim Ausfüllen kommen mir meine Söhne zu Hilfe. Sie sind Informatikfachleute und dementsprechend mit leistungsfähigen Computern ausgerüstet. Christoph und Eckart digitalisieren die bearbeitete Vorlage. Sie kriegen das Dokument fabelhaft hin, wir schicken es sofort ab.
12. August: Es kommt eine doppelte Rechnung, vom Zoll und vom Spediteur. Es geht um CIF-Rechte (Was ist das?), Steuereinlagen, die Abwicklung («manejo») und natürlich Mehrwertsteuer, insgesamt 50.870 Peso. Allein für die Abwicklung will der Spediteur trotz erhaltener Versandkosten 18.084 Peso kassieren. Ein Ärgernis! Aber was soll’s, nach all dem Vorgefallenen eine Auseinandersetzung zu beginnen, würde sicher zu nichts führen. Bekanntlich hat es wenig Sinn, Behörden den Kampf anzusagen. Unversehens muss ich an Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen denken. Zähneknirschend überweise ich die Gesamtsumme.
13. August: Der Spediteur bestätigt den Eingang der Überweisung, mit dem Hinweis, dass er «mit der Erledigung fortfahren» würde, um «die Sendung freizugeben und abzugeben.»
17. August: Abends gegen 17.30 Uhr klingelt das Telefon. Das Transportunternehmen ist mit dem Paket vor meiner Haustür. Ich kann es kaum glauben, vergesse in der Aufregung, mir die Gesichtsmaske überzuziehen und eile auf die Straße. Ein netter Mann checkt meine Personalien und kann es sich nicht verkneifen, zu witzeln: «Das muss ein Weihnachtsgeschenk sein, das man Ihnen im voraus geschickt hat!» Tja, mein Lieber, denke ich, Du hast ‘ne Ahnung. Aber Hauptsache, der Alptraum ist ausgeträumt.