Der tägliche Kampf ums Überleben
Von Arne Dettmann
Konjunktureinbruch, Firmeninsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit – die Folgen der Corona-Pandemie wurden bereits mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre verglichen. Und was für die einzelnen Staaten gilt, das trifft auch auf Millionen von Individuen zu: Die Frage danach, wie man sich am besten durchboxt und solch schwere Zeiten möglichst heil übersteht.
Der 23-jährige Johannes Pinneberg sieht sich gleich von mehreren existenziellen Nöten umzingelt. Seine Arbeit als Verkäufer in der Herrenabteilung in einem Berliner Kaufhaus wird nur mäßig bezahlt; der Lohn reicht, um gerade so eben durchzukommen. Darüber hinaus verursachen harte Verkaufsquoten, gefühlslose Vorgesetzte, interner Konkurrenzkampf und die ständige Angst vor Jobverlust einen permanenten Leidensdruck. Gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau Emma Mörschel, genannt «Lämmchen», wohnt Pinneberg billig und illegal im oberen Teil eines Lagerschuppens. Als im März 1931 der Sohn Horst, genannt «Murkel», geboren wird, reicht das Geld für die zusätzlichen Ausgaben hinten und vorne nicht. Armut und Sorgen bestimmen das Leben des jungen Paares, schließlich wird Pinneberg auch noch fristlos entlassen.
«Kleiner Mann – was nun?» erschien 1932 erstmals im Rowohlt-Verlag und machte seinen Autor Hans Fallada weltberühmt. Der Schriftsteller beschreibt darin die Lebensumstände des «kleinen Mannes», der im Zuge der Weltwirtschaftskrise von Elend und Verzweiflung heimgesucht wird. Den täglichen Kampf ums Überleben schildert der Autor dabei bis ins kleinste Detail, weshalb sein Werk der sogenannten Neuen Sachlichkeit in der Literatur zugeordnet wurde. Der Leser erhält Einblick in den Haushaltsetat der Eheleute Pinneberg, der «unter keinen Umständen überschritten werden» darf. Jeder Pfennig wird zweimal umgedreht, um das ohnehin klägliche Leben zu bestreiten.
Aber Geld ist bekanntlich nicht alles. Trotz der materiellen Entbehrungen bilden Lämmchen und Johannes anfänglich ein glückliches Paar, das die neue Zweisamkeit genießt. «Nein, Jungchen, es wird schon werden. Ich glaub immer, es kann uns gar nicht schlecht gehen. Warum denn eigentlich? Fleißig sind wir, sparsam sind wir, schlechte Menschen sind wir auch nicht, den Murkel wollen wir auch, und gerne wollen wir ihn – warum soll es uns da eigentlich schlecht gehen? Das hat doch gar keinen Sinn!»
Mit zunehmender Perspektivlosigkeit und sinkendem Lebensmut macht sich aber vor allem bei Johannes Pinneberg eine immer düstere Stimmung breit. Das Betteln um einen Arbeitsplatz, das Kriechen vor den Chefs und die Tatsache, dass er nur über eine Beziehung an den neuen Job im Warenhaus gelangt, zehren am Selbstwertgefühl des jungen Mannes. Die Furcht, bald zur großen Masse der Arbeitslosen zu gehören – «Ach, er ist ja einer von Millionen.» –, bestimmt sein Bewusstsein. «Ob ich verrecke oder nicht, das ist ihnen so schnuppe, ob Lämmchen sich jetzt anständig ernähren kann oder zu viel Aufregung hat, ob der Murkel glücklich wird oder elend – wen kümmert das was?»
Anrührend erzählt Hans Fallada, wie sich das Paar bemüht, mit eiserner Hand das wenige Geld zusammenzuhalten und doch einigen Versuchungen nicht widerstehen kann. Als Lämmchen sich und ihrem Mann in einem Delikatessengeschäft einen Räucherlachs gönnen will, wird sie auf dem Nachhauseweg von Hunger und Verlangen übermannt. Tränenüberströmt steht sie voller Scham schließlich mit dem fettglänzenden, leeren Pergamentpapier vor ihrem Mann. Dieser wiederum erliegt der Sehnsucht, seine Frau mit einer viel zu teuren Frisiertoilette zu überraschen. Entgegen aller Vernunft kauft er nach langem Hin und Her schließlich das Möbelstück. «Man nimmt nicht so leicht von seinen Träumen Abschied.»
Vorbild für die Romanfigur des Lämmchens war Hans Falladas erste Ehefrau Anna Ditzen, die nach eigenem Bekunden des Schriftstellers einem «Hoffnungslosen die Hoffnung» lehrte und offenbar zur Stütze seines Lebens wurde. Fallada (geboren 1893 in Greifswald, gestorben 1947 in Berlin) verbrachte mehrere Jahre aufgrund seiner Alkohol- und Morphinsucht in Entzugsanstalten, saß wegen Betrugs und Unterschlagung im Gefängnis und hielt sich bis zu seinem internationalen Erfolg als Schriftsteller mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.
Und so ist es auch im Roman die weibliche Hauptfigur, die sich mit ihrem Optimismus, ihrer liebevollen Art sowie praktischen Veranlagung als der Halt gebende Pfeiler erweist. Ab November 1932 haust die Familie in einer Gartenlaube in der Nähe von Berlin. Pinneberg ist seit 14 Monaten arbeitslos, Lämmchen verdient sich mit Näharbeiten und Strümpfe stopfen etwas hinzu. Die Familie stottert an mehreren Stellen Schulden ab, es fehlt an Geld für Essen und Heizung. Dennoch verbietet das Lämmchen ihm, sich an Brennholzdiebstählen zu beteiligen. «Mit Stehlen fangen wir gar nicht erst an. Ich will das nicht…» Anständig bleiben wird angesichts der Not zu einer echten Herausforderung.
Als Pinneberg in zerschlissener Kleidung in der Friedrichstraße vor Schaufenstern steht, wird er von einem Schutzpolizisten mit einem Gummiknüppel verjagt. Desillusioniert begreift Pinneberg: «Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig. Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht.» Der Gedemütigte hat jede Selbstachtung verloren und traut sich nicht mehr vor die Augen seiner Frau zu treten. Doch die nimmt ihn tröstend in den Arm: «Aber du kannst mich doch ansehen! Immer und immer! Du bist doch bei mir, wir sind doch beisammen…»
Eine politische Antwort auf die Frage «Kleiner Mann – was nun?» liefert Hans Fallada nicht. Lämmchen entstammt einer Arbeiterfamilie, ihr klassenbewusster Vater hat nur Spott übrig für den Angestellten Pinneberg, dem er unterstellt, als «Stehkragenprolet» überheblich zu sein und sich gleichzeitig von den Arbeitgebern ausbeuten zu lassen. Ihr Bruder Karl geht zu einer Versammlung der Kommunistischen Partei Deutschlands, Pinnebergs Kollege Lauterbach ist bei den Nationalsozialisten. Die Stimmung in der Weimarer Republik ist aufgeheizt, es kommt zu Raufereien in den Straßen, Pinneberg entscheidet sich weder für die eine noch die andere Seite. Im historischen Rückblick lässt sich nur nüchtern feststellen, dass weder Faschismus noch Kommunismus dem «kleinen Mann» irgendeinen Vorteil verschaffte, ganz im Gegenteil.
Wenn Fallada überhaupt so etwas wie eine Rettung entwirft, dann ist es der Rückzug ins Private, verbunden mit der Verantwortung für das gemeinsame Kind. Ansonsten hat Pinnebergs sozialer Abstieg nichts Erbauliches an sich: Die Solidarität der Angestellten entpuppt sich als Chimäre, es regiert vielmehr der Egoismus. Die Auszahlung staatlicher Hilfsgelder wird zur bürokratischen Schikane, und auch das Einholen von ausstehendem Lohn muss er sich mühsam erkämpfen. Ein Happy End ist nicht in Sicht, aber auch kein endgültiges, erlösendes Finale: «So geht es nun Wochen und Wochen. Monat und Monat… Es ist das trostloseste, dass es ewig so weitergeht. Hat Pinneberg einmal gedacht, dass es zu Ende ist? Das Schlimmste ist, dass es weitergeht, immer, immer so weitergeht… es ist nicht abzusehen.»