Anlässlich des 165-jährigen Bestehens der Deutschen Schule La Unión
Am 19. August 1959 veröffentlichte der Cóndor den folgenden Text, geschrieben von Günter Ostermai, Leiter der Deutschen Schule La Union von 1957 bis 1964. Seine lebendige Beschreibung von Stadt und Leuten vermittelt 60 Jahre später einen informativen Eindruck über das Leben der damaligen Zeit im Süden Chiles.
Zunächst muß ich mich bei Ihnen entschuldigen – für die Überschrift natürlich. Aber wenn ich sie so nicht gesetzt hätte, würden Sie sicher diesen Artikel nicht lesen. Und das wollen Sie mir doch nicht antun, nicht wahr?
Plaza Concordia
Es fängt eigentlich damit an, daß der Rápido auch in La Unión hält, fahrplanmäßig, ohne dass Sie eine Haltegebühr zahlen müssen. Schon das ist nicht allgemein bekannt, warum führen sonst immer Vortragsreisende und Künstler, Diplomaten und Besucher aus dem Ausland an unserer Stadt vorbei? Nur die Vertreter der politischen Parteien machen hier Station. Wundert Sie das?
Eine wunderschöne Plaza ziert unsere Stadt. Sie liegt in der City. Ich habe schon viele solcher Plätze in Chile gesehen, darum halten Sie mich bitte nicht für eingebildet, wenn ich behaupte, daß mir die Plaza Concordia am besten gefällt. Übrigens, der Musikpavillon, den Sie dort finden, ist ein Geschenk des Deutschen Vereins von La Unión.
Ihm gegenüber steht die katholische Kirche. In ihr walten deutsche Padres. Einer von ihnen ist selten anzutreffen, weil er oft mit seinem Filmkasten unterwegs ist. Dann führt er irgendwo in einer Schule der Stadt oder auf dem Lande den Deutschlandspiegel und deutsche Kulturfilme vor.
Die Häuserfront zwischen der Kirche und der Municipalidad trägt jetzt ein modernes Gesicht. Da gibt es ein gemütliches Café, einige Geschäfte und die neue Post.
Der anderen Plazaseite gegenüber liegt unsere protestantische Kirche, oder sagen wir besser «Kirchlein». Jeden vierten Sonntag hält hier unser Herr Pfarrer aus Osorno den Gottesdienst. Aber wöchentlich einmal kommt er, um den Religionsunterricht zu erteilen und um die Konfirmanden zu unterrichten. Und wenn er einmal außerhalb dieser Reihenfolge kommt, dann muß er ein trauriges Amt erfüllen. Dann ziehen wir mit ihm zum Deutschen Friedhof, der am Rande der Stadt, am Ufer des Llollelhue liegt.
Vor uns reihen sich die Gräber, ein in Stein graviertes Geschichtsbuch. Da liegen sie, die vor über hundert Jahren mit den Seglern «Catalina», «Susanna» oder «Victoria» zu uns kamen: Landwirte, Kaufleute, Handwerker, Lehrer, aus Schwaben, aus Hessen, aus Brandenburg, – Gründer, Mitglieder, Förderer unserer deutschen Vereine, Träger von Namen, die heute längst vergessen sind, andere, die in den Enkeln und Urenkeln weiterleben.
Doch kehren wir zurück zur Plaza. Da finden Sie auf der Ostseite die Gebäude der Banco del Estado und der Banco Osorno y La Unión. Und nun gehen wir gleich um die Ecke in den Deutschen Verein. Im gleichen Hause ist das Hotel Unión. Außerdem haben wir noch das Hotel Comercio.
«Deutscher Verein»
Vor dem Kriege konnte man an der Außenfront des Vereinsgebäudes die Aufschrift «Deutscher Verein» lesen. Während des Krieges mußte aus besonderen Gründen dieser Name weichen. «Club Alemán» hieß es fortan. Aber bald half die Natur sich selbst. Die alten Buchstaben leuchteten wieder durch. «Deutscher Verein» und «Club Alemán» standen friedlich nebeneinander. Durch den neuen Anstrich der Außenfassade sind wir jetzt um eine Sehenswürdigkeit ärmer geworden.
Dieses Haus ist der kulturelle Mittelpunkt der Stadt. Theateraufführungen, Wahlveranstaltungen, Konzerte, Bälle und Schulfeiern wechseln in bunter Reihenfolge.
Natürlich haben wir auch ein Kino. Wir sehen sogar hin und wieder deutsche Filme. Und eine Radiostation haben wir auch und selbstverständlich eine «Deutsche Stunde». Sie können uns jeden Mittwoch und Sonnabend über Radio Concordia CD 82 hören. Versuchen Sie es doch einmal!
Viertälteste Deutsche Schule
Beinahe hätte ich unsere Deutsche Schule vergessen. Sicher sind wir eine der wenigen Schulen des Landes, die innerhalb von zwei Jahren ihre Schülerzahl fast verdoppeln konnte.
Auf jeden Fall sind wir die viert-älteste Deutsche Schule Chiles und werden im nächsten Jahr hundert Jahre alt. Man sieht aber unserer Schule das ehrwürdige Alter nicht an. Trotzdem sind wir uns der Würde und Tradition bewußt, zumal unseren Schulhof das älteste deutsche Kulturdenkmal Chiles schmückt: Es ist
ein Obelisk, den Dr. Rodolfo A. Philippi zur Erinnerung an seinen Bruder Bernardo Eunom setzte.
Lino, Colún und Catamutun
Unsere großen Geschäftshäuser versorgen uns mit allem Lebensnotwendigen. Hier kann man von der Stecknadel bis zum schnittigen Opel alles kaufen. Die modern eingerichtete Rotisería liefert uns die köstlichen Früchte des Nordens, und in den großen Modehäusern an der Plaza kleidet man sich á la dernière crie. Unter fachmännischer Leitung wird in der Maestranza Ihr Wagen repariert. Die großen Mühlen unserer Stadt sorgen dafür, daß der Weizen schnell verarbeitet wird, während die Colún aus der Milch herrlichen Käse bereitet und die Lino durch ihre Leinenwaren den Namen La Unión in die Welt hinausträgt. Den erforderlichen Kraftstoff aber liefern die reichhaltigen in der Nähe La Unions gelegenen Kohlengruben der Catamutun, die ihren Sitz in unserer Stadt hat.
Ja, das wäre so ziemlich alles von unseren Sehenswürdigkeiten. Ach nein, das Wichtigste hätte ich ja wieder vergessen – die Unioniner selbst. Die meisten von ihnen wohnen in Santiago, aber in ihrem Taufschein steht «La Unión». Aber reden wir doch von den echten Unioninern. Die Menschen hier sind immer beschäftigt. Und wenn sie einmal nach Santiago fahren, dann wirklich nur aus geschäftlichen Gründen.
Sie können es mir glauben, über Langeweile klagt bei uns niemand. Dafür sorgen schon die
Initiative und der Einfallsreichtum dieser Menschen. Obendrein ist der Unioniner bekannt für seine Gastfreundschaft. Hier sagt man «su casa» und meint es auch so.
Wollen Sie es einmal probieren?