Portät: Dr. José Miguel Müller, Kinderneurochirurg
Das Leben von Dr. José Miguel Müller ist ausgefüllt: Er hat seine Berufung gefunden und lebt sie. Der Neurochirurg ist spezialisiert auf das Fachgebiet der Fetalchirurgie und operiert Ungeborene im Mutterleib am «Offenen Rücken» im Hospital Regional Rancagua.
Von Nicole Erler
José Miguel Müller war zwölf Jahre lang Schüler der Deutschen Schule in Santiago. Nach seinem Schulabschluss wollte er Arzt werden. Doch das Ergebnis seiner «Prueba de Aptitud Académica» (PAA, heute die PSU) erlaubte ihm nicht, direkt in das Fach Humanmedizin einzusteigen. Er entschied sich zunächst zwei Jahre Biologie an der Universidad de Chile zu studieren und bewarb sich dann für einen Studienplatz im Fach Medizin an deutschen Universitäten. Sein Abschluss an der Deutschen Schule machte es möglich: Der junge Mann bekam Studienplatzangebote von fünf deutschen Hochschulen. Doch er hatte eine ganz bestimmte Region im Sinn, nämlich das Schwabenland. Als Jugendlicher hatte er dort während seines Schüleraustauschs in der Nähe von Ravensburg bei einer Gastfamilie gelebt, die ihn – nun als Student – prompt wieder aufnahm. Er studierte von 1998 bis 2000 in Ulm Medizin. Nach einem Semester Gastfamilienleben, gründete er mit einem Freund eine Wohngemeinschaft und kommentiert: «Etwas, was kein Student verpassen sollte!»
Der heutige Neurochirurg meint lächelnd: «Deutschland ist wunderschön, aber die Familie ist wichtiger.» Außerdem stellte er sich die Frage: «Wo kann ich nützlicher sein?» Er kehrte daher zurück nach Chile und beendete sein Medizinstudium an der Universidad de Chile in Santiago. In den Jahren 2007 bis 2010 sammelt er praktische Erfahrungen als Landarzt in Chimbarongo und Litueche, in der sechsten Region O’Higgins, wo er auch heiratete. Die Arbeit in dem äußerst ländlichen Gebiet stellte ihn nicht selten vor große Herausforderungen. 2010 nahm der junge Arzt im Instituto de Neurocirugía Dr. Asenjo seine dreijährige Facharztausbildung zum Neurochirurg auf. Am selben Institut machte er eine Weiterbildung zum Kinderneurochirurg und ist nun der einzige Arzt dieser Fachrichtung in der VI. Region. Aufgrund seiner vierjährigen Tätigkeit in der Region O‘Higgins, wurden die Kosten seiner Ausbildung vom Servicio de Salud de las Regiones übernommen.
«Die Chirurgie ist eine Kunst», sind die Worte des mittlerweile seit 2015 in Rancagua wirkenden Chirurgen. Die Operationen, die er vornimmt, sind alles andere als Routineoperationen. José Miguel Müller arbeitet im Bereich der Fetalchirurgie. Er operiert Föten, die an einer Fehlbildung leiden, der sogenannten Myelomeningozele, bei der eine Spaltbildung der Wirbelsäule vorliegt, auch unter dem Namen «Offener Rücken» bekannt. Noch bevor die Kinder geboren werden, wird durch einen Eingriff in der Gebärmutter am Fötus die Deformation korrigiert. Der Fötus hat zu diesem Zeitpunkt eine Größe von circa 30 Zentimeter. In Chile wird nur an zwei weiteren Standorten diese Methode angewendet, im Hospital Carlos van Buren in Valparaíso und in der Clínica Las Condes. In Deutschland wird diese Technik nur in Heidelberg und Gießen zum Einsatz gebracht und ist erst seit 2011 nach Abschluss klinischer Studien offiziell anerkannt. Die Sterberate der Föten liegt bei drei bis fünf Prozent. Nach einer erfolgreichen Operation steigt die Lebensqualität sowie die Chance auf eine relativ normale Entwicklung des Kindes immens. Der erste Eingriff dieser Art in Chile wurde 2011 in der Clínica Las Condes durchgeführt, im Hospital Regional Rancagua erstmals im Jahr 2012 und dieses hat mittlerweile die größere Erfahrung: 44 kleine Menschen auf dem Weg ins Leben wurden dort bis heute operiert.
Heutzutage hat José Miguel Müller einen routinierten acht Stunden Arbeitstag. Doch das war nicht immer so. Als er seine Tätigkeit am Hospital Regional Rancagua begann, musste er viele 24-Stunden-Dienste absolvieren, eine enorme Verantwortung. Nach einigen Jahren ging ihm der Dauerstress zu sehr ans Herz, er bekam Herzrhythmusstörungen. Seit 2019 macht er deshalb keine Notdienste mehr.
Im Bezug auf die Qualität des öffentlichen Gesundheitssystems in Chile kommentiert der Anfang Vierziger offen, dass er in der Zeit vom Beginn seines Studiums bis zum heutigen Tag eine deutliche Verbesserung des Systems erkennt. Landesweit wurden viele neue und moderne Krankenhäuser errichtet. «Chiles Gesundheitssystem ist nicht das beste der Welt, aber es ist nicht schlecht. Das große Problem sind die Wartelisten.»
Mit der Gründung des «Deutschen Verein Rancagua» holte er sich ein Stück Deutschland nach Chile. Die gemeinnützige Organisation veranstaltete Sprachunterricht, Kinoabende, Gesprächskreise und förderte die deutsche Kultur, «die er immer bewundert hat und in seinem Leben nicht missen möchte». Doch es ist arbeits- und zeit-intensiv, den Club aktiv zu halten, weshalb seit einiger Zeit keine Veranstaltungen stattfinden.
In seiner Freizeit ist der Chirurg am liebsten Vater seiner beiden Kinder, vier und zehn Jahre alt. Wenn sie dann schlafen, wendet er sich Themen wie Astronomie und Theologie zu. Sich selbst sieht er als Christ. Als ich ihn frage, was er in seinem Leben gelernt hat und gern an andere weitergeben möchte, antwortet er kurz und knapp: «Wer durchhält kann seine Träume verwirklichen.» Er hat es wahr gemacht. Er folgte seiner Berufung und schenkt heute – immer mit Leib, Herz und Seele bei der Arbeit – vielen Familien Hoffnung und ein besseres Leben. Ein wahrer Segen!