Von Dietrich Angerstein
Adolph Wilckens war in seinen letzten Lebensjahren erblindet. Daher kaufte er sich eine Schreibmaschine, lernte das Maschineschreiben und schrieb in einem Zug seine Lebensgeschichte auf.
Wie im Cóndor vom 17. Juli beschrieben, stellte ein Zufallsbesuch in seinem Elternhaus in Altona die Weichen: Der gerade erst zum Grundschullehrer ernannte 23-Jährige entschloss sich 1877, Lehrer an der Deutschen Schule Valparaíso zu werden. Braut Helene kam zwei Jahre später nach. Das junge Ehepaar entschied sich – nichtsahnend – ein Pensionat in seinem Haus zu eröffnen.
In seinen Memoiren hebt Adolph Wilckens hervor, dass in seinem Fall ganz besondere Schwierigkeiten entstanden. In all den Jahren kam zu den wenigen gut erzogenen Kindern nämlich eine ganze Schar hinzu, die namentlich moralisch in anderen Schulen versagt hatte. Sein Haus wurde zuweilen als eine Art Besserungsanstalt angesehen. Hinzu kam sein mangelnder Geschäftssinn. Später einmal äußerte sich einer seiner Söhne dazu:
«Das Internat war ein ganz besonderes Geschäft. Die Eltern nahmen die Hälfte der Pensionäre umsonst auf und die andere Hälfte blieb die zu bezahlende Pension grundsätzlich schuldig.»
Wilckens und Stoppenbrink übernehmen Schule
Trotz alledem gestaltete sich die finanzielle Lage der Schule – und damit die der Familie Wilckens – besser. Allerdings fiel dieses mit dem Zeitpunkt zusammen, da die Kinder des Inhabers und Gönners Gustav Adolf Hörmann, der Schule entwachsen waren. Es war anzunehmen, dass damit auch sein Interesse an dem Gedeihen der Anstalt abnehmen würde. Bevor das Thema zur Sprache kam, machten deshalb – nach reiflicher Überlegung – die Herren Dr. Stoppenbrink und Wilckens Herrn Hörmann gemeinsam den Vorschlag, die Schule als Privatschule zu übernehmen. Das Inventar sollte für einen geschätzten Wert gekauft werden und das Gebäude für eine vorerst niedrige Summe gemietet. Herr Hörmann war sofort einverstanden und bot auch weitere Unterstützung an, falls ein Notfall eintreten sollte.
Das Abkommen trat Ende 1883 in Kraft. Leicht ist es den Herren Stoppenbrink und Wilckens nicht gefallen, in keinem Jahr deckten die Einnahmen die Ausgaben. In den Folgejahren konnten sich beide Herren nur mühsam durch Einnahmen aus Privatstunden über Wasser halten und im Falle von Adolph Wilckens halfen die Mieteinkünfte aus dem Pensionat. Schlimmer wurde es, als nach dem Tode von G.A. Hörmann die Erben begannen, die Miete für das Schulhaus kräftig anzuheben. Sie war praktisch unbezahlbar geworden.
Adolph Wilckens lernte seine Frau erst in Notzeiten in ihrer wahren Größe kennen. Die Arbeit, die vielen Kinder im Haus, die ersten eigenen vier Jungen – es wurde ihr niemals zu viel. Sie fand außerdem Zeit zur Pflege ihres Mannes, als dieser an Dysenterie erkrankte, war tagtäglich von morgens sieben Uhr bis spät in die Nacht hinein tätig: Eine tapfere, willensstarke und fromme Frau, stets liebevoll und heiter, dazu mit unbeugsamer Energie geladen. Zeitweise stand ihr ihre Schwester Mathilde hilfsbereit zur Seite. Diese war früh in Hamburg verwitwet und hatte mittellos im Hause der Wilckens Hilfe gesucht. Vier Jahre später fand sie schließlich im Schiffskapitän Emil Steinfatt aus Valdivia einen neuen Partner.
Krankheiten, Unfälle und die Revolution des Jahres 1891 konnten nicht spurlos am Hause Wilckens vorübergehen, sie forderten ihren Tribut an körperlichen Leiden und Sorgen. Dazu die miserablen Bilanzen des Instituto Alemán, es war ein ständiges Auf und Ab. Ausläufer der politischen Wirren am Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten die Stadt Valparaíso und hinterließen ihre Spuren auch auf dem Cerro Concepción. Ausländische Kriegsschiffe, unter ihnen die deutschen Kreuzer «Leipzig» und «Alexandrine», übernahmen den Schutz ihrer Landsleute. Deutsche Matrosen bezogen Wachtposten auf dem Weg zum Cerro Concepción.
In diesen Zeiten der Ängste und Nöte war immer wieder der Wunsch aufgekeimt, noch einmal die alte Heimat besuchen zu können. Besonders als auch der zweite Sohn Fritz den Weg nach Deutschland gefunden hatte, um dort ein Ingenieursstudium zu beginnen. Vater Adolph nutzte die Gelegenheit, seiner Frau nahezulegen, ihn doch auf dieser Reise zu begleiten, aber immer wieder lehnte sie ab. «Sie reise nicht ohne ihren Mann» und stellte ihm dagegen anheim, selbst zu reisen: «Meine Eltern sind beide tot. Du hast deine Mutter verloren, aber noch lebt dein Vater. Reise zu ihm, ehe es zu spät ist. Denke daran, dass er gerade 75 geworden ist und in diesem Jahr sein 50-jähriges Jubiläum als Lehrer feiert».
Erste Deutschlandreise nach 21 Jahren
Im Dezember 1898 trat Adolph Wilckens schließlich die Reise an. Es war die erste nach seiner Ankunft in Chile im September des Jahres 1877. Sie führte auf gefährlichen und abenteuerlichen Weg zunächst auf Maultieren über die Anden nach Buenos Aires, denn noch gab es die Transandenbahn nicht. Von dort aus ging es weiter auf einem italienischen Dampfer nach Genua. Die Fahrt mit dem Zug nach Altona bildete den Abschluss der Reise. Der Aufenthalt war kurz, nur 28 Tage waren Adolph Wilckens in der alten Heimat vergönnt, denn im April des folgenden Jahres hatte er wieder vor einer Klasse zu stehen. Es wurde eine Reise voller vergangener Sehnsüchte und Kindheitserinnerungen, in der der Sohn Fritz eine Vorstellung davon bekam, unter welchen Umständen seine Vorfahren einst gelebt hatten. In den folgenden Jahren sollte es dann zu grundlegenden Änderungen im Leben der Familie Wilckens kommen.
Im Laufe des Jahres 1900 teilte Herr Dr. Oscar Fiedler dem Vorstand der Deutschen Gemeindeschule seinen Entschluss mit, sein Amt als Direktor der Schüler niederzulegen und sich endgültig nach Berlin in den Ruhestand zurückzuziehen. Über dreißig Jahre hatte er die Schule geleitet. Seine Ernennung hatte seinerzeit zum Zwiespalt in der deutschen Gemeinschaft geführt, der nie ganz ausgeräumt worden war. Von Feindschaft jedoch war längst nicht mehr die Rede.
Der Vorstand der Schule hielt jetzt die Zeit für gekommen, den Gegensatz ganz aufzuheben, trat an die Herren Dr. Stoppenbrink und Wilckens mit dem Vorschlag heran, beide Schulen zu einer größeren Anstalt zusammenzulegen. Herrn Dr. Stoppenbrink wurde das Amt des Direktors und Herrn Wilckens das des Konrektors angeboten. Nach reiflicher Überlegung nahmen sie die Ämter an. Es bedeutete für beide einen Verlust der Selbstständigkeit, aber mehr finanzielle Möglichkeiten, auch wenn die Einkünfte knapp waren und durch Privatstunden verbessert werden mussten. Helene Wilckens blieb nichts weiter übrig, als durch die Erweiterung der Pension zum Haushalt beizutragen. Damit bürdete sie sich ein Menge Arbeit und auch viel Ärger durch die Aufnahme von Kindern auf, die weder aufgrund ihrer Kenntnisse noch ihrer Erziehung in das Familienleben passten. Erst nachdem das Internat durch radikale Maßnahmen «gesäubert» worden war, kehrten wieder Ordnung und Frieden im Hause ein.
Eine große Erleichterung war, als ungefähr zum Zeitpunkt der Vereinigung der beiden deutschen Schulen, das Ehepaar Wilckens die Möglichkeit hatte, ein neues, schönes Haus zunächst zu mieten, später sogar zu kaufen. Das Gebäude eignete sich in jeder Hinsicht für ihre Vorhaben. Es war der Traum ihres Lebens und da inzwischen auch die Zusammenlegung der beiden Schulen endgültig abgeschlossen worden war, gestaltete sich ihr Leben weit freier von Sorgen als bis dahin. Es ermöglichte ihnen endlich, eine gezielte Auswahl der sich meldenden Pensionäre zu treffen. Die eigenen Kinder wuchsen auch heran, mehrere standen bereits auf eigenen Füßen. Die Zukunft schien gesichert, doch da fuhr aus heiterem Himmel ein Blitzschlag herab, der das Glück der Familie Wilckens in Trümmer schlagen sollte.
Das Erdbeben 1906
Am 16. August 1906, kurz vor acht Uhr abends, wurde innerhalb von wenigen Minuten die halbe Stadt Valparaíso in Trümmer gelegt. Tausende von Menschen fielen dem Erdbeben zum Opfer. Voller Entsetzen rannten die Bewohner der Pension Wilckens aus dem Haus. Doch das war solide gebaut und hielt den in rascher Folge sich wiederholenden Stößen gut Stand. Adolph Wilckens trat in den Hof, seine Frau und sechs der Kinder lagen unter den Trümmern des Nachbarhauses, fünf von ihnen traf der Tod. Helene Wilckens starb am nächsten Tag in den Armen ihres Mannes. Sie hatte ihr Leben gegeben, um ein Kind zu schützen und rettete es damit.
Ein Trost war Adolph Wilckens verblieben. Nicht lange vor der Katastrophe hatten sich sämtliche Söhne im Hause eingefunden, was seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. Ihre «fünf großen Jungen» waren ihre letzte große Freude gewesen. Adolph hätte Helene gern noch ein anderes Geschenk gemacht: Eine Reise nach Deutschland. Aber dazu sollte es nun nicht mehr kommen. Helene Wilckens, geborene Wiebe, wurde in Valparaíso beigesetzt.
Adolph Wilckens stand nunmehr vor der Frage, wie es mit dem Pensionat weitergehen sollte. Da sprang Tochter Marie ein. Obwohl noch recht jung, erklärte sie sich bereit, in die Fußstapfen der Mutter zu treten. Sie war an Arbeit gewöhnt, besaß die gleiche Willensstärke ihrer Mutter. Zwar war diese Lösung den Söhnen nicht recht. Doch so gelang es, das Pensionat noch ein paar Jahre weiterzuführen, bis auch der letzte Schüler abgegangen war, neue wurden nicht mehr aufgenommen.
Tochter Marie heiratete kurz bevor das Pensionat endgültig geschlossen wurde. Auch ihr, seiner lieben Tochter Marie, hatte Adolph Wilckens viel zu verdanken. Sie hatte ihm über die Tage nach dem Tod seiner geliebten Helene hinweggeholfen.
Aktiv für Gemeinschaft
Die Zeit lief weiter. Es folgten Änderungen wie der weitere Ausbau der Deutschen Schule Valparaíso. Es wurde beschlossen, die Anstalt nach der Art einer deutschen Oberrealschule umzugestalten, je nach Bedarf erst eine Untersekunda, später eine Obersekunda anzugliedern.
Dr. Stoppenbrink teilte diese Ansichten nicht, er zog sich in den Ruhestand zurück.
Adolph Wilckens versah weiterhin die Stellung eines Konrektors, auch unter dem neuen Direktor Rudolf Stier, einem Oberlehrer aus Wilhelmshaven.
Nun, mit mehr Freizeit, begann Adolph Wilckens seine literarischen Fähigkeiten verstärkt zu nutzen. Es erschienen von ihm Artikel über die Geschichte der Stadt Valparaíso, Plaudereien aus Chiles Vergangenheit, über den Städtebau zur Kolonialzeit, die Gründung der deutschen Kolonien, über Ärzte vergangener Zeiten, die Geschichte des Deutschen Hospitals, die Geschichte der Stadt Concepción und vieles mehr. Sehr aktiv wurde er auch im Deutschen Flottenverein und im Verein Deutscher Lehrer in Chile, wobei er sich besonders um die Gewährung eines Pensionsanspruches für deutsche Lehrer im Ausland bemühte. Er arbeitete sogar ein Denkschrift aus, die über den damaligen deutschen Botschafter von Eckert und den Reichsaußenminister von Bethmann-Hollweg an den Reichstag zur gesetzlichen Schaffung einer Pensionskasse weitergeleitet wurde. Leider wurde die Eingabe dann aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht weiter verhandelt.
Über die Tage und Monate des Ersten Weltkrieges und die Haltung der Deutsch-Chilenen und der chilenischen Bevölkerung sind weitreichende Bücher und Schriften erschienen. Adolph Wilckens nahm an allen Aktionen teil, die in jenen Jahren stattfanden, begonnen mit den Folgen der Seeschlacht von Coronel und dem Empfang des deutschen Ostasiengeschwaders unter Admiral Graf Spee im Dezember 1914.
Konrektor Adolph Wilckens verließ schließlich den aktiven Schuldienst im August des Jahres 1921. Der Vorstand der Deutschen Schule dankte ihm aufrichtig für seine langjährige, tatkräftige und pflichtgetreue Arbeit an der Schule und schrieb ihm eine jährliche Pension von viertausend Pesos aus, die Summe entsprach ungefähr achttausend Rentenmark des Jahres 1929.
Adolph Wilckens verstarb am 28. Mai 1944 in Valparaíso im hohen Alter von 90 Jahren. Er hinterließ sechs Kinder, fünf junge Herren und eine junge Dame, die ihrerseits durch zahlreiche Nachkommen zur Verbreitung des Namens Wilckens in Chile beitrugen. Heute treffen wir seine Erben auf allen Gebieten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens des Landes.