Von Walter Krumbach
Zahlreiche Mitglieder der lutherischen Kirche Chiles erinnern sich noch an Propst Friedrich Karle. Fast 40 Jahre war der willensstarke Geistliche mit der imponierenden Rednergabe in Santiago im Amt. Sein Werk prägte die Gemeinde bis zum heutigen Tag. Seinem Beispiel folgten einer seiner Söhne und ein Enkel, die ebenfalls den Pfarrerberuf ergriffen.
Am 30. April 2020 verstarb in Giengen (Baden-Württemberg) im 72. Lebensjahr Pfarrer Hans-Georg Karle an den Folgen einer Coronavirus-Ansteckung. Sein Tod erschütterte nicht nur seine Verwandten und Bekannten in seiner Wahlheimat Deutschland, sondern auch seine Freunde in Chile, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Er besuchte als Kind in Santiago die Lota-Schule, die sich in einer Entfernung von fünf Minuten Fußweg von der Erlöserkirche befand, wo sein Vater das Pfarramt ausübte. Später absolvierte er an der Deutschen Schule Antonio Varas die Oberstufe.
Hans-Georg spielte gerne Fußball und war ein begeisterter Fan des Colo-Colo. Dank seines angeborenen Organisationstalents arrangierte er ein Fußballlottospiel und gab er eine Schülerzeitung heraus. Seine Schulleistungen waren hervorragend, er sammelte zahlreiche Preise ein und half Mitschülern, ihre Prüfungen vorzubereiten. Nach seinem Abitur im Jahr 1966 zog er nach Deutschland, blieb aber trotz der Entfernung mit seiner Santiaguiner Klasse ein Leben lang verbunden.
Er studierte in Tübingen Theologie und nahm anschließend verschiedene Pfarrstellen an. In Württemberg arbeitete er über 20 Jahre für das Gustav-Adolf-Werk, gehörte zu dessen Jugendausschuss und war mitverantwortlich für Spendenaktionen und Bezirksdiasporatage. 23 Jahre war er mit seinem gewohnten Engagement in Urbach tätig. 2013 trat er in den Ruhestand, übernahm jedoch für den Zeitraum eines Jahres einen Vertretungsdienst in Herbrechtingen.
Letztes Treffen mit Schulkameraden
Hans-Georg Karle, seine Frau Eva-Maria und die vier Kinder haben sich immer mit großer Freude und Pflichtbewusstsein für Kirche und Gemeinde eingesetzt. Im Oktober 2019 hatte der Pfarrer die Gelegenheit, in Wien an einem Treffen mit ehemaligen Schulkameraden aus Santiago, die in Europa leben, teilzunehmen. Im Frühling 2020 reiste er ein letztes Mal ins Ausland. Mit seiner Frau machte er auf Zypern Urlaub. Sein plötzlicher Tod bestürzte sowohl seine Familie, die Bekannten und die Kirchengemeinde als auch die zahlreichen
Schulfreunde aus Santiago, mit denen er gut 65 Jahre, bis zu seinem Lebensende, in Kontakt war.
Dritte Pfarrer-Generation
Sein jüngster Sohn Jörg Michael, Jahrgang 1990, wird durch das Leben in der Kirchengemeinde geprägt und nimmt an der Jugendarbeit aktiv teil. In Tübingen, Jerusalem und Wien studiert er evangelische Theologie. Die meiste Zeit seines Studiums verlebt er, genauso wie sein Vater, im Evangelischen Stift zu Tübingen. In der Stiftsvertretung ist er besonders aktiv und wird für ein Semester zum Stiftsältesten ernannt.
In Jerusalem nimmt er an einem ökumenischen Studienjahr teil, einem Programm für evangelische und katholische Studenten. Außer der klassischen Theologie werden die Teilnehmer in Archäologie des Heiligen Landes, der politischen Situation des Nahen Ostens und Ökumenischer Theologie eingewiesen. In Jerusalem lernt er seine zukünftige Ehefrau Hanna kennen, die ebenfalls Theologie studiert. Seit März 2020 teilen sich beide ihre erste Pfarrstelle in Metzingen.
Nationalsozialismus und schwarze Listen
Fast 90 Jahre vorher, Anfang der 1930er Jahre, begann Jörg Michaels Großvater seinen Dienst in Chile. Pfarrer Friedrich Karle führte seine Tätigkeit während der schwierigen Zeit des Nationalsozialismus und der schwarzen Listen aus. Zahlreiche Deutsch-Chilenen
erlitten durch diese Verzeichnisse während des Zweiten Weltkriegs wirtschaftlich schwere Schäden. Nach Ausbruch des Krieges unterblieb die Unterstützung für seine Kirche völlig. Karle pflegte jedoch Kontakte in Deutschland, die ihm halfen, diese Zeit zu überstehen. Als Chile die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrach, verschärften sich diese Schwierigkeiten. Pfarrer Karle wurde nun zur Anlaufstelle von vielen Hilfesuchenden aus der deutschsprachigen Gemeinde.
«Liebesgaben-Pakete»
Nach Kriegsende ergriff er die Initiative, um der Not leidenden deutschen Bevölkerung Hilfsgüter zukommen zu lassen. Karle organisierte und startete die Aktion ungemein rasch: Bereits im Juli 1945, zwei Monate nach der Kapitulation, landete das erste Schiff mit Lebensmitteln und Kleidung in Deutschland. Es kam aus Valparaíso. Chile war somit weltweit das erste Land, das spontan dem schwergeprüften deutschen Volk mit Lebensmittelspenden half. Es folgten weitere Lieferungen, so dass Chile 1947 das Land war, das an dritter Stelle stand, was die Menge der Lebensmittelspenden an Deutschland anging. Die Sammlungen der sogenannten «Liebesgaben-Pakete» erfolgten bis 1949, wobei nicht nur die evangelische Kirche und ihr unermüdlicher Pfarrer Karle, sondern auch die Freimaurer, zu denen Karle einen guten Kontakt pflegte – er gehörte selbst einer Loge an – sowie die katholische Kirche einen wichtigen Beitrag leisteten.
Nach etwa 25 Jahren Tätigkeit erfolgte Karles Ernennung zum Propst. Während seiner langjährigen Amtszeit hat er durch seinen rastlosen Einsatz die Entwicklung der deutschen Evangelischen Kirche in Chile vorangetrieben, begleitet und geprägt. Aber auch im Ausland erfüllte er bedeutsame Missionen: 1950 glückte es ihm, die verstreute Glaubensgemeinschaft in Lima-Peru zu vereinen und dort einen neuen Pastor im Amt persönlich einzuführen.
1962 war er Mitbegründer des Altenheims der Evangelischen Kirche in der Straße Ricardo Lyon, welches 2015 in die Residencia Las Hualtatas Altenheim in Vitacura integriert wurde. Friedrich Karle starb am 8. Mai 1971 während seiner Rückreise nach Deutschland.