Gedanken zur Zukunft von Staatlichkeit
Von Iván JaksicK
Keine Frage: Sinkt der Wohlstand eines Landes, nehmen die politischen Konflikte zu. Doch wächst er, kehrt deshalb noch längst nicht gesellschaftlicher Frieden ein. Das Vertrauen in den Staat ist wichtiger als die wirtschaftliche Entwicklung – eine Handvoll Gedanken zur Zukunft von Staatlichkeit.
Die Legitimität des Staates hängt davon ab, dass sie glaubhaft erscheint. Diese Art von Legitimität hat sich in Chile aufgelöst: Polizisten stellen sich in Santiago Bürgern entgegen, die gegen Regierungsbeschlüsse demonstrieren.
Südamerika ist zweifellos ein Staats-Labor. Was also kann man da über die Zukunft des Staates lernen? Wie er besser scheitert – oder wie er es besser macht? Das ist die Frage, mit der ich mich hier beschäftige.
Die Intensität der Ereignisse, die sich am 18. Oktober des vergangenen Jahres in Chile überstürzten, schockierte die Welt. Ganz entgegen der üblichen internationalen Sicht, die dieses kleine Land von der südlichen Hemisphäre gleichsam als Modellnation betrachtet, war es unter dem Banner verschiedenster sozialer Forderungen (besserer Zugang zur Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung, Mindestlohn und Rentenhöhe) zu massiven Protestaktionen gekommen.
Die mit diesen Protesten einhergehende Gewalt eskalierte dann rasch und führte in allen Großstädten zu chaotischen Verhältnissen – insbesondere in der Hauptstadt Santiago. Eine in die Defensive gedrängte Regierung war zu einer Reihe von Konzessionen gezwungen, zu denen der Volksentscheid über eine neue Verfassung gehörte. Doch die Gewalt ging weiter, was Zerstörungen in der Infrastruktur (speziell bei den U-Bahn-Stationen) nach sich zog, die privaten Investitionen sinken ließ und Enttäuschung und Unsicherheit in der Gesellschaft hervorrief.
Vor allem aber kamen Fragen zur Rolle des Staates auf. Mittlerweile ist offensichtlich geworden, dass der Staat in Chile ein neues Gleichgewicht zwischen erweiterten Sozialfunktionen und der gegenwärtigen Marktwirtschaft finden muss. Weniger klar ist, welche Rolle er dabei in Zukunft spielen soll – einmal ganz abgesehen davon, dass sich die Verhältnisse mit dem Ausbruch von Covid-19 stark verändert haben dürften.
Falscher Liberalismus
Wie in anderen Teilen Lateinamerikas existierte in Chile der Staat vor der Nation. Gegenüber der historischen Erfahrung Europas ist dies ein entscheidender Unterschied, welcher der Erklärung bedarf.
Der Zusammenbruch des spanischen Imperiums in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hinterließ einen fragmentierten Subkontinent, dem wenig Ressourcen zur Verfügung standen, um die alte Kolonialverwaltung zu ersetzen. Paradoxerweise führte im spanischen Amerika die Berufung auf den Liberalismus, der nach der Unabhängigkeit die Vorlage für den Aufbau neuer Nationen liefern sollte, eine enorme Ausdehnung des Staatsapparates herbei.
Ein Land nach dem anderen ignorierte die liberale Tradition einer Minimierung der Staatsapparate und etablierte in allen Bereichen des nationalen Lebens eine Politik staatlicher Eingriffe. Auch in Chile, als einem für lateinamerikanische Verhältnisse eher moderaten Fall, entwickelten sich Bildungssystem, Infrastruktur und Sozialleistungen inklusive des Gesundheitswesens ausschließlich unter staatlicher Führung.
Der Trend verstärkte sich noch, als Chile im 20. Jahrhundert ein Industrialisierungsprojekt in Angriff nahm, das massive staatliche Ressourcen erforderte – darunter Nahrungsmittelsubventionen, um die Löhne im Industriesektor hinreichend attraktiv zu halten. Doch die Nachfrage nach Arbeit, die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, politische Polarisierung, eine endemische Inflation, die enorme Konfiszierung ländlicher Besitztümer sowie internationale Bergbaufirmen führten zum Militärputsch von 1973. Er war die explizite Reaktion auf eine Politik staatlicher Interventionen, die anscheinend kein Ende finden konnte.
Das Regime von Augusto Pinochet (1973–1990) kehrte den Trend des wachsenden Staatseinflusses um – durch massive Streichung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor und die Privatisierung der meisten staatlichen Funktionen (insbesondere Bildung, Gesundheit und Pensionen). Zudem förderte Pinochets Regierung eine neoliberale Philosophie, die Individualismus, Wettbewerb und die Vorherrschaft der Marktkräfte betonte.
Die Verfassung von 1980, die mittlerweile kurz vor ihrer Abschaffung steht, bewahrte diese Grundsätze und gab sie den demokratischen Regierungen weiter, welche die Diktatur nach 1990 ersetzten. Die Mitte-links-Koalition, die über zwanzig Jahre an der Macht blieb, hatte in der Tat mit Bedingungen zu leben, die während der Übergangsverhandlungen mit dem Militär festgelegt worden waren. Während sie sich insgesamt an die gemäßigten politischen Traditionen des Landes hielt, öffnete sie sich allmählich für Reformen.
Gewisse Kompromisse mit dem Militärregime waren toleriert worden, um eine Rückkehr zur Demokratie zu ermöglichen. Das Wirtschaftsmodell hingegen wurde eher unter dem Druck von Sachzwängen beibehalten. Die günstigen internationalen Umstände verhalfen zu einem stabilen und nachhaltigen Wachstum von um die 5 Prozent pro Jahr, was die Armutsquote der Bevölkerung von fast 50 Prozent auf weniger als 10 Prozent sinken ließ. Doch allmählich entwickelte sich auch Unruhe angesichts bleibender oder wachsender Ungleichheit und ebenso angesichts von Korruption sowohl im Geschäftsleben als auch in den Streitkräften.
Das Misstrauen der Millennials
In der Epoche nach der Militärdiktatur wuchs auch eine neue Generation heran, der die Idee des Ausgleichs fremd war – als der Preis, den ihre Eltern bezahlt hatten, um den Übergang zur Demokratie zu schaffen. Zeichen von Unzufriedenheit waren in weiten Teilen der Bevölkerung zu registrieren, doch besonders zeigten sie sich unter Schülern im sekundären Bildungsbereich und Universitätsstudenten, die den Versprechungen des politischen und wirtschaftlichen Modells – und das waren in der Praxis Chancen, die sich ihnen tatsächlich boten – nicht mehr trauten. Das Vertrauen in den wiederhergestellten demokratischen Staat begann zu zerfallen. Es war also kein plötzliches Ereignis, das sich im Oktober 2019 artikulierte: Es hatte sich in dem Maße abgezeichnet, wie die Generation der Millennials zur Mehrheit wurde.
Die ausgeprägte Unzufriedenheit dieser Generation war allerdings die am wenigsten sichtbare Dimension der Ereignisse, die sich Ende des vergangenen Jahres zutrugen. Das Alltagsleben war vor allem durch einen erschreckenden Zusammenbruch traditioneller Verhaltenskonventionen und zugleich die Unfähigkeit des Staates charakterisiert, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Über lange Zeit war das Gesetz von Bürgern respektiert worden, die seine Regeln verinnerlicht hatten. Der Staat versuchte sie nun weiter durchzusetzen, obwohl er sich mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert sah: Studenten und viele Menschen aus der breiteren Bevölkerung übersprangen Drehkreuze, um sich den Fahrpreis öffentlicher Verkehrsmittel zu sparen; Verkehrsregeln wie Vortrittsrecht oder Stoppschilder wurden tatsächlich missachtet; Verkehrsampeln wurden zerstört – teils aus Protest, teils aber auch aus lokalen praktischen Motiven; Bürgersteige wurden zu einer Kampfzone zwischen Fußgängern und Radfahrern, Fußgängern und illegal parkenden Autofahrern sowie Fußgängern untereinander.
Während die Zahl von Unfällen und Verletzten stieg, wich der Staat zurück. Sein fehlender Wille einzugreifen ermutigte weitere Übertretungen, was den Alltag zu einem Albtraum machte, wie ihn die Chilenen seit der extremen Polarisierung nach den frühen 1970er Jahren nicht mehr erlebt hatten.
Die neue Gratismentalität
Vor langer Zeit betonte Max Weber, wie sehr die Legitimität des Staates davon abhängt, dass sie glaubhaft erscheint. In großen Teilen Lateinamerikas hat sich diese Art von Legitimität heute aufgelöst. Besonders in Chile hat die Distanzierung gegenüber allen Bereichen der Regierung fast unvorstellbare Rekordwerte erreicht. Nicht nur in Bezug auf den Präsidenten, sondern auch auf den Kongress und die politischen Parteien liegen die Zustimmungswerte im einstelligen Prozentbereich. Die Bürger identifizieren sich keineswegs mehr mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie. Im Gegenteil – sie verabscheuen sie.
Aber was wollen sie, abgesehen von einem erweiterten Wohlfahrtsstaat, der das ablösen soll, was als «räuberisches Wirtschaftsmodell» angesehen wird? Zu den vorgebrachten Antworten auf diese Frage gehört die Betonung vielfacher – und wechselnder – gesellschaftlicher und individueller Identitäten; die Forderung, persönliche Ideale und Erwartungen zum Gesetz des Landes zu machen; und vor allem die Zurückweisung von allem, was zum Symbol für einen Status quo geworden ist.
Aus den Graffiti an den Wänden des Stadtkerns von Santiago lässt sich ablesen, was diese führerlose Bewegung will: Neben unfreundlichen Worten für die Polizei (Carabineros) gibt es Aufrufe wie «Alles kostenlos», «Freiheit für Haustiere» und «Vergesst Normalität». Zugleich wurden Monumente zerstört und Gemeindezentren oder Bibliotheken niedergebrannt.
Solche Enttäuschung über das «System» verweist auf eine drängende Frage im Hinblick auf die künftige Rolle des Staates: Wie ist es möglich, die Regeln der öffentlichen Ordnung durchzusetzen und zugleich dafür zu sorgen, dass sie als grundlegend für eine moderne Zivilgesellschaft verstanden werden? Als die Gemüter Einzelner entflammt waren und organisierte Gruppen Läden plünderten und städtische Wahrzeichen zerstörten, stand der Staat kurz davor, irrelevant zu werden.
Doch plötzlich zeigte die Corona-Pandemie ihr hässliches Gesicht. Die Proteste hörten mit einem Mal auf, und das Gefühl, dass man den Staat nötig hatte, brachte die Chilenen dazu, zu entwickeln, was Adam Smith «Sympathie» für seine Institutionen nannte. Sie sind geneigt anzuerkennen, dass das Leben in der Gesellschaft Dimensionen aufweist, die über Politik und Wirtschaft im engeren Sinne hinausgehen – nämlich die Wertschätzung des Lebens in einer Gemeinschaft zu leben und ein Gefühl für die Rechte der anderen.
Der chilenische Staat hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr darum gekümmert, das Wirtschaftswachstum zu fördern, als die weniger greifbaren Grundsätze des kollektiven Verhaltens zu verbessern. So entstand die Gewalt gegen Symbole des Wohlstands und sogar gegen Symbole des historischen Werdegangs von Chile.
Der chilenische Staat ist seinem Zusammenbruch noch einmal zuvorgekommen, doch um langfristig überleben zu können, muss er wirklich neue Formen annehmen – vor allem muss er Gerechtigkeit, öffentliche Ordnung und gemeinsame Grundwerte fördern. Vielleicht könnte sich die Legitimität eines künftigen Staates als Eudaimonia im aristotelischen Sinne entfalten, als Einsatz für das gute Leben der Bürger, erfüllt mit dem Engagement für volle Partnerschaft in einer politischen Gesellschaft.
Der Autor Iván Jaksic ist Mitglied der Chilenischen Akademie für Sprache (Academia Chilena de Lengua) und Direktor des Overseas Center der Stanford University in Santiago. Er gilt international als einer der führenden Spezialisten auf dem Gebiet der südamerikanischen Kulturgeschichte und erhält dieses Jahr den Premio Nacional de Historia in Chile.
Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.
Am 1. Juni erschien dieser Beitrag von Iván Jaksic in der Neuen Züricher Zeitung.