Von Walter Krumbach
Meine Familie lebte zurzeit des großen Erdbebens vor 60 Jahren auf dem Gut Santa Julia bei Freire im wunderschönen Haus der Familie Milthaler, etwa 130 Kilometer vom Epizentrum in Valdivia entfernt. Wir Kinder gingen in Temuco zur Schule und waren, wie üblich, übers Wochenende auf dem Land.
Am Samstag, dem 21. Mai, weckte uns ein heftiger Erdstoß kurz nach 6 Uhr in der Frühe. Wir sprangen alle aus den Betten, rissen die Schlafzimmertüren auf und trafen uns, barfüßig und verschlafen, im Gang. Die Eltern stellten fest, dass jedermann wohlauf war, worauf alle wieder zu Bett gingen. Damit, dachten wir, sei die Sache erledigt gewesen.
Tags darauf fuhren mein Vater, mein Bruder und ich nach dem Mittagessen zur Jagd aus. Meine Mutter blieb mit meinen beiden Schwestern daheim. Wir hielten in der Nähe eines Waldes. Ich mochte nicht mitgehen, weshalb ich auf dem Feld in der Nähe des Fahrzeugs blieb, mich auf dem Gras niederließ und einige Arbeiter bei der Feldarbeit beobachtete. Kurz nach 15 Uhr begann das große Beben. Eigenartigerweise habe ich nicht die Stärke des Naturereignisses im Gedächtnis, aber dafür das Verhalten der Arbeiter, die auf die Knie fielen und laut jammernd Gott um seine Gnade und Barmherzigkeit anflehten.
Wenige Minuten später kehrten die beiden Jäger zurück. Wir brachen sofort zur Rückfahrt auf. Um nach Hause zu gelangen, mussten wir einen Stausee passieren, über den ein Kiesweg führte. Das Erdbeben hatte den Kies derart durcheinandergeworfen, dass ein Überqueren unmöglich war. Der Weg existierte nicht mehr! Also machte mein Vater kehrt und fuhr einen großen Umweg von mehr als 20 Kilometern über die Fundos San Juan und Santa Ana, die Stadt Freire und die Landstraße, die nach Toltén führt.
Als wir endlich zu Hause ankamen, war zwar das Schlimmste vorbei, aber die Aufregung groß. Meine Mutter hatte meine zweijährige Schwester im ersten Stock zum Mittagsschlaf in die Wiege gelegt. Als das Beben begann und immer heftiger wurde, rannte sie die Treppe hinauf, nahm das Kind in den Arm und lief, so gut es ging, wieder ins Erdgeschoss hinunter. Dort gab sie die Kleine meiner großen Schwester, während meine Mutter abermals hinaufrannte. Ganz oben, im zweiten Stock, war nämlich der riesige Tank, der das Haus mit Trinkwasser versorgte, übergeschwappt. Mit jedem Erdstoß schleuderte er hektoliterweise die Flüssigkeit in alle Himmelsrichtungen. Meine Mutter versuchte nun, die Betten abzudecken, damit sie nicht völlig durchnässt wurden, was ihr zum Teil gelang.
Das große Holzhaus hielt dem Beben gut stand. Es ächzte und krachte zwar furchterregend, erlitt jedoch keine nennenswerten Schäden. Als meine Mutter am Eingang anlangte, hatten sich zu meinen Schwestern die beiden Dienstmädchen gesellt. Sie lagen auf den Knien und beteten. Aller paar Minuten setzte ein neues Beben ein. Meine Eltern beschlossen, dass wir alle gemeinsam im Wohnzimmer auf herbeigetragenen Matratzen übernachten würden, um im Falle eines neuen großen Erdbebens gemeinsam flüchten zu können. Aber nichts dergleichen geschah, sodass nach einigen Tagen alle sich in ihre Schlafzimmer zurückzogen.
Am ersten Schultag nach dem erlebnisreichen Wochenende erkundigte sich der Spanischlehrer, wie es uns ergangen sei. Er ging alle Bankreihen durch und fragte uns einzeln aus. Die meisten berichteten stolz von ihren Abenteuern, bis er zu einer Klassenkameradin kam, die sich bis dahin recht ernst und schweigsam verhalten hatte. Sie erzählte, dass ihr Elternhaus vollkommen zusammengebrochen sei und brach in Tränen aus. Statt sie zu trösten, ließ der Lehrer sie stehen, ging zum nächsten und fragte weiter. Von angewandter Psychologie hatte dieser Schulmeister offenbar keine Ahnung.
Im darauffolgenden Monat Oktober fuhr meine Mutter nach Santiago. Während der Reise konnte sie sich endlich entspannen – es war das erste Mal seit dem 22. Mai, dass sie die Nächte ohne lästige Nachbeben durchschlafen konnte.