Unglaubliches Leid und globale Zäsur
Von Peter Downes
Vor 75 Jahren wurde das Ende des Zweiten Weltkrieges verkündet, ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte Deutschlands und Europas. Nichts sollte mehr so sein wie vorher. Deutschland wandelte sich in eine Demokratie und die Staaten Europas begannen sich anzunähern, zunächst auf wirtschaftlicher Ebene, dann auch zunehmend politisch.
Die Stunde Null
Um 15 Uhr hörten am Dienstag, den 8. Mai 1945, die Briten eine bedeutende Radioansprache ihres Premierministers Winston Churchill, die von der BBC direkt aus seiner Residenz in der Downing Street übertragen wurde. «The German war is at an end» («Der deutsche Krieg ist zu Ende») war die zentrale Nachricht. Endlich hatte der Schrecken ein Ende, Deutschland hatte kapituliert. Churchill war sich sicherlich sehr bewusst, dass nach den schweren Zeiten des Bombenkriegs und des Siegs über die deutschen Truppen an der Westfront, nach der deutschen Niederlage, eine neue Ordnung in Europa und ein wirtschaftlicher Neuaufbau die große Herausforderung war. So rief er seine Landsleute auch nur zu einer gedämpften Feier des Victory Day (Tag des Siegs) auf. «Wir mögen uns eine kurze Zeit der Freude gönnen, aber lassen sie uns nicht vergessen, welche Mühen und Anstrengungen uns noch bevorstehen.» Schon am Vortag war die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht erfolgt und die Nachricht vom Ende des Krieges sickerte bereits bei den Abendnachrichten durch, so dass die Ansprachen des Premierministers und dann auch Königs George VI. aus dem Buckingham Palace die offizielle Meldung des Kriegsendes war.
Folgen des Krieges
Die Bilanz des Kriegs ist erschreckend: Rund 60 Millionen Menschenleben hatte der Zweite Weltkrieg gefordert. Zwar sind weniger Soldaten als im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern gestorben. Dafür aber wurden um die sechs Millionen europäische Juden getötet und durch die Bombenangriffe beider Seiten mehrere Millionen von Zivilisten Opfer des Krieges. Todesmärsche von Kriegsgefangenen und Konzentrationslagerinsassen, Vertreibungen, Flüchtlinge, Seuchen, Hunger und Massenhinrichtungen ließen in den ersten Monaten 1945 die Opferzahlen hochschnellen.
An jenem 8. Mai fand eine der größten Zäsuren in der europäischen und deutschen Geschichte statt. Ein übersteigerter Nationalismus war bei beiden Weltkriegen maßgeblich verantwortlich gewesen. Nach der bedingungslosen Kapitulation waren die Sieger diejenigen, die über das Schicksal Deutschlands bestimmten. So wurde Deutschland zunächst in Besatzungszonen aufgeteilt. Die Briten besetzten Norddeutschland, die Franzosen die Rheinländer und der Süden Deutschlands wurde von den US-Amerikanern verwaltet. Im Osten Deutschlands hatten die Russen die Kontrolle übernommen. Sie bestanden zuvor auf einer eigenständigen Kapitulation Deutschlands. Diese wurde in der Nacht des 8. Mai unterschrieben und am folgenden Tag, dem 9. Mai, offiziell in der Sowjetunion vermeldet, weshalb seit 1965 dieser Tag in Russland als Sieg gegen Nazi-Deutschland gefeiert wird.
Anders als im Ersten Weltkrieg hatte der Zweite Weltkrieg auch gewaltige materielle Schäden verursacht. Im Osten Europas hatte die «Politik der verbrannten Erde» ganze Landstriche verwüstet. Die Deutschen hatten in der Normandie eine Spur der Zerstörung hinterlassen; die Bombenangriffe auf England zerstörten Industrien und ganze Stadtteile Londons, aber auch die massiven Bombenangriffe der Alliierten auf deutsche Städte hinterließen Ruinenlandschaften.
Der «totale Krieg»
Die Niederlagen der deutschen Wehrmacht an der Ostfront bei Stalingrad (im Sommer 1942 bis Winter 1943), der Rückzug des Afrikakorps im Frühjahr 1943 nach dem Vormarsch der britischen Streitkräfte im Norden Afrikas und vor allem die geglückte Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie, hatten die Niederlage Deutschlands deutlich angekündigt. Dennoch ließ sich Adolf Hitler nicht von seinen Offizieren zu Verhandlungen zur Beendigung des Krieges überreden. Im Gegenteil rief Hitler die Jugend und ältere Bevölkerung 1944 zum letzten «totalen Krieg» auf. Eine Niederlage war für ihn nicht akzeptabel. Wenn die Deutschen nicht siegten, dann wären sie nicht würdig zu überleben.
Auch um den Krieg schnell zu beenden, planten daher einige Offiziere und Politiker Hitler durch ein Attentat umzubringen. Nach dem dieses am 20. Juli 1944 scheiterte, wurden sie im Januar und Februar 1945 hingerichtet. Hitler sollte noch knapp drei Monate länger leben. Er wollte keinesfalls «weder tot noch lebendig» in die Hand der Feinde fallen. Am 30. April 1945 zwischen 15.15 und 15.50 Uhr beging er mit seiner erst am Vortag angetrauten Ehefrau Eva Braun Suizid. Sein Propagandaminister Joseph Goebbels ersuchte am 1. Mai die Sowjetunion um einen Waffenstillstand, aber als Josef Stalin auf eine bedingungslose Kapitulation bestand, vergiftete er seine sechs Kinder mit Zyankalikapseln und beging mit seiner Frau Selbstmord.
Eine Abrechnung mit den Kriegsverbrechern erfolgte durch die Besatzungsmächte in den Nürnberger Prozessen (vom November 1945 bis Oktober 1946), in denen 611 Personen angeklagt wurden. Aus der Führungsriege erhielten zwölf die Todesstrafe durch Erhängen, drei lebenslänglich, vier mehrjährige Gefängnisstrafen. Es gab aber auch Freisprüche. Andere mussten durch Entnazifizierungslager «resozialisiert» werden. Diese Entnazifizierung hatte in der Sowjetischen Zone eher den Charakter eines Arbeitszwangslagers, wo auch Gefangene umkamen.
Spaltung von Ost und West
Bereits vor Kriegsende trafen sich am 11. Februar 1945 in Jalta auf der Krim Winston Churchill, der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und Stalin, um eine Nachkriegsordnung für das besiegte Deutschland festzulegen. Dabei sah man eine einheitliche Verwaltung in drei Zonen vor. Bei der Konferenz in Potsdam am 17. Juli, an der neben Churchill und Stalin der neue US-Präsident Truman teilnahm, einigte man sich über die politische und geographische Neuordnung Deutschlands. Zudem wurde die Entmilitarisierung und der Umgang mit Kriegsverbrechern verhandelt. Es wurde nun ersichtlich, dass es keine koordinierte Verwaltung der Zonen geben würde, sondern sich unabhängige Zonen formieren würden, wobei sich eine Spaltung zwischen Ost und West anbahnte.
Der Krieg hatte die europäische Karte Mittel- und Osteuropas grundlegend verwandelt. Die Sowjetunion hatte schon während des Krieges ihren Machtbereich erheblich ausgedehnt und dachte nach dem Krieg nicht daran, ihren Einfluss rückgängig zu machen. Es bildete sich ein Ostblock (militärische Bündniszone). Polen wurde nach Westen verlagert, was zu einer massenhaften Vertreibung führte. Kommunisten übernahmen nun bis 1948 in Polen, Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei die Macht.
Kalter Krieg
Im sowjetisch besetzen Osten Deutschlands entstand 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Der britische Premierminister Winston Churchill hatte bereits im Frühjahr 1946 von einem «eisernen Vorhang». gesprochen. Europa war fortan in zwei Blöcke gespalten – in ein Westbündnis und ein Ostblock mit den Führungsmächten der USA und der Sowjetunion. Die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland hielt zum Westen und fand durch den beginnenden «Kalten Krieg» schnell Zugang zu internationalen Vereinigungen und Organisationen. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg wurde Westdeutschland sehr bald als «östliche Grenze» des Westens gefördert und für eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung gesorgt. Seit 1955 hatte Deutschland wieder eine eigene Armee – die Bundeswehr – und wurde im selben Jahr Mitgliedstaat der 1949 gegründete Nato.
Im Pazifik ging der Krieg noch bis in den Sommer 1945 weiter. Es waren vor allem die beiden Atombombenabwürfe der USA auf die japanischen Städte Hiroshima (6. August 1945) und Nagasaki (9. August 1945), die am 2. September mit der Kapitulation Japans auch dort das Kriegsende besiegelten.
Zwiespältige Deutsche
Andere europäische Staaten erlebten nach dem Krieg die Entkolonialisierung, die nicht friedlich verlief. Nicht nur Europa hatte große Umwälzungen erlebt, sondern die Zäsur der Geschichte nach dem Ende des Weltkrieges war global.
Lange haderten die Deutschen mit ihrem Schicksal und sahen die Kapitulation als eine Niederlage an. Eine neue Sicht bedeutete die bemerkenswerte Rede des deutschen Bundespräsidenten Richard von Wei-zsäckers am 8. Mai 1985 zum Gedenken an den 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs: «Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.» Wie zwiespältig die Deutschen das Ende des Krieges empfanden, formulierte Weiszäcker so: «Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.»
Eine der Folgen des Krieges ist das Leiden an dem «unübersehbar großen Heer der Toten», an den Verwundungen und Verkrüppelungen, den erlittenen Traumata der Bombennächte, den Erlebnissen der Flucht und Vertreibung, der Plünderung, Vergewaltigung, Zwangsarbeit, Folter, Hunger, Not, Angst vor der Verhaftung und Tod, die Zwangssterilisierung. Ob man zu den Siegern oder Besiegten zählt, spielt am Ende keine Rolle. Jeder Krieg ist eine Katastrophe, einen Versagen der Politik und bringt für alle Beteiligten unsägliches Leid.