«Es gibt nichts, was man nicht kann»
Wenn man heute in Chile oder Deutschland von Flüchtlingen spricht, dann meint man meistens Menschen, die Krieg oder Armut entkommen wollen. Die gebürtige Breslauerin Eva Drieschner erlebte ein ähnlich schweres Schicksal, hat aber ihren Optimismus nie verloren.
Von Silvia Kählert
«Ich kann mich wahnsinnig an Kleinigkeiten erfreuen», erklärt Eva Drieschner. Die schlanke, gepflegte Frau fügt hinzu: «Seien es die Blumen auf meinem Balkon oder der Spaziergang im Park.» Vielleicht erklärt das, warum sie trotz eines nicht immer einfachen Lebens so viel Fröhlichkeit ausstrahlt. Vor allem ihre deutschen Wurzeln pflegt sie auch noch nach 60 Jahren in ihrer neuen Heimat Chile mit viel Freude: Ob im Chor Divertimento, in der deutsch-katholischen Gemeinde Sankt Michael oder bei den Handarbeitsstunden in der Deutschen Schule Santiago.
Dieses Engagement ist ihr sehr wichtig, obwohl es ihre eigentliche Heimat gar nicht mehr gibt. Eva Drieschner ist in Breslau geboren, das bis 1945 zu der deutschen Provinz Schlesien gehörte, im heutigen Polen. «Ich stamme aus einer Handwerkerfamilie. Die Fleischerei und Wurstfabrik Drieschner war in Breslau bekannt.» Haus und Fabrik hat die Familie am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren: «Wir sind regelrecht aus Schlesien vertrieben worden.»
Zunächst waren sie und ihre beiden jüngeren Schwestern wegen der Bombenangriffe mit dem Kinderfräulein nach Lauterbach evakuiert worden. Eva Drieschner erzählt:«Das war der Ort, wo wir im Sommer unsere Ferien verbracht hatten.» Nun wurde es für das neunjährige Mädchen ein Ort des Schreckens: Über Wochen zogen die Russen auf ihren Pferden hindurch, stahlen und vergewaltigten viele Frauen. «Wir hatten Glück: Da es hieß, dass wir Thyphus haben, ließen sie uns in Ruhe.» Der Vater war zu der Zeit noch im Krieg und keiner wusste, wo genau.
Ein weiteres Mal war der Familie das Glück hold: «Als Deutschland den Krieg verloren hatte, mussten wir aus Lauterbach fort und unser Hab und Gut dort gelassen. Daher versteckten wir etwas Geld und den Schmuck meiner Mutter am Körper. Bei jedem Dritten gab es eine Leibesvisite. Wir blieben verschont und konnten alles mitnehmen!» Eva zeigt auf die weiße Perlenkette, die sie um den Hals trägt: «Auch die war damals dabei.»
An die Marschverpflegung erinnert sie sich noch genau: «Ein Brot, eine Wurst und ein Stück Butter hatte man uns mitgegeben.» Eine etwa einwöchige Fahrt im Waggon eines Güterzuges folgte und Eva Drieschner erzählt: «Es war furchtbar. An jedem Bahnhof wurden wir entlaust, obwohl wir gar keine Läuse hatten. Man hat uns Polacken genannt – es war demütigend.» Es hieß: «Wenn ihr Glück habt, kommt ihr in die Westzone.» So war es dann auch: Die Drieschners landeten bei Braunschweig. Anderthalb Jahre mussten sie sich zu fünft mit dem Kindermädchen ein einfaches Zimmer teilen. Nie vergessen wird die Vertriebene den Tag, als ihr auf der Straße ein Mann entgegen kam und sie erfuhr, dass das ihr Vater war, der von den Engländern aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. «Er sagte immer zu mir: Es gibt nichts, was man nicht kann», erzählt die lebhafte und entschiedene Frau, «und diese Erfahrung habe ich tatsächlich immer wieder in meinem Leben gemacht.»
Eva Drieschners Vater baute unter Schwierigkeiten wieder einen kleinen Fleischereibetrieb auf: Es herrschte ein großer Konkurrenzkampf um die Kunden. Eva half nach der Schule gerne mit und begann mit 17 Jahren eine Ausbildung zur Verkäuferin. Nach dem Abschluss mit sehr gutem Ergebnis, begann ihre Arbeit bei der Fleischerei Weishäupl in Hannover. «Ich war gerade erst 19, als sie mich fragten: Wollen Sie unsere Fililalleiterin werden?» Sie sagte zu und war nun für einen Verkäufer und zwei Lehrlinge zuständig, aber am meisten Spaß machte ihr, «das Schaufenster appetitlich zu dekorieren.»
Nicht lange nach Antritt der neuen Stellung, reiste ihr Vater nach Peru, um dort eine Fleisch- und Wurstfabrik aufzubauen. Nun habe das schönste Jahr ihres Lebens begonnen: «Meine Eltern schenkten mir eine Reise nach Lima und ich durfte dort leben, so wie ich wollte. Ich lernte reiten und abends ging ich schwimmen. Ich genoss es!» Auf der Schiffsfahrt nach Südamerika hatte sie eine schicksalshafte Begegnung mit einem jungen Deutsch-Chilenen, der ihr Mann werden sollte.
1959 zog Familie Drieschner nach Chile. Als bereits ein Jahr später ihr Vater aus beruflichen Gründen zurück nach Deutschland musste, war Eva Drieschner 23 Jahre alt. «Ich begleitete meine Eltern zum Hafen in Valparaíso und fühlte mich zum ersten Mal wirklich mutterseelenallein. Das Schwerste war aber, dass sie nicht bei der Hochzeit mit Walter dabei sein konnten.»
Anfang der 1960er Jahre wurden ihre beiden Töchter Susanne und Monika geboren. Als diese auf die Ursulinenschule gingen und eines Tages eine Lehrerin krank war, fragten die Nonnen sie: «Können Sie als Vertretung die vierte Klasse übernehmen?» Die Einstellung ihres Vaters hatte sie sich wohl ganz zu eigen gemacht, so dass sie Selbstvertrauen ausstrahlte. «Natürlich musste ich manchmal resolut auftreten, damit die Schülerinnen mich respektierten», meint sie. Danach half sie in der Bibliothek mit und dann die nächsten zehn Jahre überall dort, wo gerade Not «an der Frau war».
Die Zwangsvertreibung hat der 83-Jährigen die Heimat, aber nicht die Identität genommen. Auch wenn sieben Enkel in Chile geboren wurden und sie im nächsten Jahr ihre Diamantene Hochzeit feiert, sagt sie: «Ich fühle mich immer noch als Deutsche, aber meine neue Heimat ist Chile. Hier wurde ich mit offenen Armen aufgenommen und hier leben alle meine Freunde.».