Essay
Von Richard Wagner
Wie soll ich bei dieser unerträglichen Hitze und dem blendenden Licht in Weihnachtsstimmung geraten? Sehen Sie sich doch bloß die geschmacklosen, überladenen Weihnachtsbäume an, deren vielfarbigen Blinklichter wie hysterisch gewordene Verkehrsampeln nach allen Seiten blitzen! Und dann noch der Lärm! Der pausenlose, ununterbrochene Krach! Soll der etwa als feierlich verstanden werden? Soll ich`s gar Andacht nennen? Nein, mein Lieber! Nichts über einen dunklen Abend mit versammelter Familie. Es ist still und draußen zittern die Sterne vor Kälte. Eisblumen malen sich an Tür und Fenster. Gewiss, wir lesen nicht mehr wie Opa und Oma das Weihnachtsevangelium aus Lukas 2, «Es begab sich aber ….» – erstaunlich, dass mir diese Worte hängen geblieben sind -, wir können diese Geschichten ja nicht mehr glauben, wir singen auch keine Weihnachtslieder mehr, was wir eigentlich vermissen, aber wir haben die Texte vergessen, von Zeit zu Zeit jedoch legen wir eine CD auf. Wir sprechen, etwas leiser als sonst, über die Familie und ihre Probleme, freuen uns aneinander, bringen auch unsere Sorgen zur Sprache. Wir gedenken immer des Wortes der Mutter: «Zu Weihnachten wollen wir uns alle hier zusammenfinden, wie zur Zeit meines Vaters, der uns das Evangelium vorlas und wir alle das schöne Gefühl hatten: Wir sind zuhause, wir sind daheim.» Ja sehen Sie, genau das vermisse ich hier und nenne es Weihnachtsstimmung: das Anheimelnde, ja eine rätselhafte Heimat selbst.
Was könnte man dieser Frau – es könnte natürlich auch ein Mann sein – darauf antworten?
Manche Theologen könnten so antworten: «Aber liebe Frau, vergessen Sie doch diese Sentimentalitäten! Konzentrieren Sie sich auf Gottes Wort allein, auf die Botschaft, dann vergeht Ihnen die Lust an all diesem Kram und Sie brauchen gar keine sogenannte Weihnachtsstimmung.» Eine solche Antwort ist nicht nur unmenschlich, sondern auch sachlich unbefriedigend. Jeder müsste sich doch fragen, warum Schnee, Kerzenlicht und frühe Dunkelheit Weihnachtsstimmung hervorrufen. Man müsste schon sehr beschränkt und einfältig sein, um diese Wirkung dem Schnee und so weiter selbst zuzuschreiben. Der Anfang muss umgekehrt gewesen sein: Die Stimmung legte sich ihrerseits auf Schnee und so weiter. Meine Veranschaulichung mag veraltet sein, aber sie dient ihrem Zweck: Sie gehen langsam mit Ihrem Mädchen durch einen Rosengarten, fassen sich ein Herz und stellen die Frage an der Ihr Glück hängt. Sie sagt «Ja» und wann immer Sie einer Rose begegnen, ist diese unvergleichlich mehr als nur eine Rose, mit ihrem Duft und ihren Farben vernehmen Sie eine «Stimmung»: Ihr Glück, das «Ja». Hat sie aber «Nein» gesagt, werden Ihnen ebenfalls Farbe und Form der Rose imponieren, aber sie wird zugleich Trägerin eines Schmerzes sein, der noch nach Jahren vielleicht gemildert in Ihrem Herzen erwacht.
Unsere Ahnen saßen bei Kerzenlicht in der Dunkelheit; draußen war Eis und Schnee, vielleicht auch Sturm – man denke doch an das tiefe und schöne Gedicht von Lulu von Strauß und Torney: «Die Christnacht der Hallig» – und lasen die Weihnachtsgeschichte. Weil ihr Leben sehr ernst war, lasen sie mit Herz und Geist und so verwandelte sich ihre eigene dunkle, kerzenbeleuchtete Stätte in den Stall zu Bethlehem und Jesus war bei ihnen: als Kind in der Wiege, als Sterbender am Kreuz, als Sieger über alle Finsternisse. Im Vertrauen zu ihm verlor für sie das Leben seine abgründige «Un – Heimlichkeit». Um das in seiner Tiefe auch nur zu ahnen, müssen wir uns eine Glaubensvorstellung unserer Urahnen, der Germanen vergegenwärtigen.
Bekanntlich bestand für sie die Welt aus einer Reihe von Abteilungen: die der Asen (Götter), der Riesen, Menschen, Zwerge und so weiter. Was uns hier interessiert, ist aber folgendes: Um dieses ganze Weltengebäude ringelt sich eine Riesenschlange, gleichsam eine überdimensionale Boa constrictor, die Midgard – eine Schlange, die sich allmählich mehr und mehr unwiderstehlich zusammenzieht und schließlich alles zermalmt. Es wird enger und immer enger in dieser unheimlichen Welt. Die Grundstimmung ist dann verständlicherweise die Angst (kommt von eng angustia und angosto). Die Midgardschlange ist natürlich ein Symbol für das unheimliche Schicksal, dem man nicht vertrauen kann, so wie Sisyphos` Felsenblock oder die mit Steinen zu füllenden bodenlosen Brunnen griechische Symbole für das sinnlose Schicksal sind, das uns lähmt und aller Hoffnung beraubt.
Die Weihnachtsstimmung ist sozusagen der emotionale Niederschlag des neuen «Heim – Erlebnisses». Weil Christus nun bei uns wohnt, ist diese Wohnung weit und offen. Wo unser Freund bei uns weilt, da sind wir zuhause, daheim, da ist es also heimlich und vertraut und nicht mehr fremd und unheimlich. Und was wir unter seinen Augen und in seiner Gegenwart, im Geiste der Liebe und Güte tun, gleicht nicht Sisyphos Felsblock, denn er selbst, der Liebende und Gütige ist auch der Bleibende und Garant eines letzten, göttlichen Sinnes.
Wenn dem so ist, dann kann man gut verstehen, dass viele Menschen, die schon lange keine Christen mehr sind, womöglich nicht einmal an Gott in irgendeiner Weise glauben, dennoch eifrig die «Weihnachtsstimmung» suchen, sozusagen mit den Krücken: Dunkelheit, Kerzenlicht, Adventsmusik und in Europa, im Schnee.
Aber müssen wir uns denn nicht alle mit einer solchen Ersatzstimmung abfinden? Die Kerzen sind ja da, ebenfalls die traute Dämmerung und – wenn wir in Europa wären – sogar der Schnee. Aber wo ist der Gast? Seinen Schritt über die Schwelle meiner armseligen Lebenshütte höre ich nicht, wohl aber das Ächzen meiner Balken, weil Midgard ihre Ringe zusammenzieht. «Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir….?» dichtet Paul Gerhardt. Nun, wie denn? Soll ich sagen: «Herr, zuerst muss ich meine Zweifel niederkämpfen, aber ich weiß nicht wie!»? Er sagt uns, wir sollten wie Kinder werden, demütig und empfangsbereit. Kinder freuen sich auf Weihnachten und die Weihnachtsstimmung, warum also nicht damit beginnen?
Liebe Leserin, lieber Leser!
Unsere Gedanken und erst recht unsere Zweifel befinden sich nicht in unserer Gewalt, sie überfallen uns. Aber es gibt vieles was wir tun können. Sie dürfen gerne lächeln, wenn ich Ihnen verrate, dass ich täglich ein Kapitel der Evangelien lese, aufmerksam und andächtig, damit die Botschaften selbst zu mir sprechen, mir begegnen können. Freilich gelingt das nicht so oft, aber ich lasse mein Tun nicht von meinen Launen abhängig sein. Theologische Vorkenntnisse sind selbstverständlich nicht erforderlich, oder muss ein sensibler Mensch erst Musiktheorie studieren, um beim Anhören eines Schubertliedes in die Knie zu gehen?
Beginnen Sie doch mit dem Weihnachtsabend! Zünden Sie in der Abenddämmerung die ruhig brennenden Kerzen an und an Stelle des Schnees, den es bei uns nicht gibt, lesen Sie Ihrer Familie aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums die Verse 1 bis 20 besinnlich vor. Das dürfte doch nicht unmöglich sein! Dann werden Sie auch ohne Schnee Weihnachtsstimmung erfahren.
Ich wünsche allen Lesern eine sehr innige und schöne Weihnachtsstimmung und – mit einer Sprachwendung Martin Luthers gesagt – «in, mit und unter» dieser Stimmung eine gesegnete Weihnacht.