Chiles Krise reiẞt Traumata auf
Von Sabine Köhler
Ein Ehepaar mittleren Alters kommt in die Sprechstunde. Sie haben eigentlich eine gute Beziehung und ihre Konflikte immer lösen können, aber seit dem Anfang der sozialen Krise in Chile sind ihre politischen Ansichten zu einem unlösbaren Problem geworden. Sie streiten immer häufiger und ihre Familienharmonie ist ernsthaft bedroht.
Sie kommt aus einer politisch eher rechts orientierten Familie. In der Regierung Salvador Allendes wurde ihrer Familie Land enteignet, und sie erinnert sich an ihre Kindheit, an die Ängste ihrer Eltern und die Schwierigkeiten Lebensmittel zu beschaffen. Die Erinnerung daran löst noch heute bei ihr ein Gefühl von Bedrohung und Unruhe in der Magengegend aus. Ihr Mann kommt aus einer politisch eher links orientierten Familie. Sein Vater war Akademiker an der Universität und musste samt Familie das Land verlassen. Auch er erinnert sich an die Ängste seiner Eltern und die Jahre im Ausland, das Gefühl der Verfremdung. Worte, wie Militär, Ordnung und nationale Sicherheit, lösen bei ihm Wut und Aggression aus.
Wie kann sich eine Beziehung plötzlich so verändern? Dort, wo vorher liebevolle Worte waren, gibt es nun Distanz, es fallen böse Blicke und verletzende Kommentare. Die Neurowissenschaft kann uns einige Hinweise geben, und auch zeigen, in welcher Richtung die Lösungen liegen können.
Was passiert beim Trauma?
Unser Nervensystem ist ein Resultat der Evolution der Lebewesen auf der Erde; mehr als 500 Millionen Jahre haben es durch Erfahrung immer wieder neu gestaltet. Es ist für unser Überleben zuständig und besteht aus verschiedenen Modulen, etliche von ihnen unter unserer Bewusstseinsschwelle. In den letzten 200.000 Jahren waren wir Menschen Jäger und Sammler und lebten in Stämmen. Unser Gehirn hat gelernt in Millisekunden Freund (die unserem Stamm angehörten) von Feind (die einem anderen Stamm angehörten) zu unterscheiden ‒ eine vollkommen unbewusste und unfreiwillige Entscheidung, von der oft Leben und Tod abhingen, und so kannte sie nicht dem langsameren, bewussten Denken überlassen werden.
Wir wissen inzwischen, dass Trauma tiefe Spuren in unserem Nervensystem hinterlässt. Für beide Ehepartner waren die Erlebnisse traumatisch, denn die Familien fühlten sich in ihrer Existenz bedroht. Trauma versetzt unser Nervensystem in Alarmzustand und dann gibt es drei vorprogrammierte Reaktionen: Angriff, Flucht oder Erstarren. In jedem Fall kommt der, den ich dafür verantwortlich mache und alle die zu der Gruppe, Partei oder Volksgruppe gehören, in die Feindkategorie. Trauma bedeutet, dass ich ein Erlebnis nicht verarbeiten kann, weil es mich überwältigt hat. Das heiβt, wenn ich daran zurückdenke, egal wieviel Zeit vergangen ist, fühle ich die Bedrohung ähnlich stark wie damals, als sie geschehen ist. Es genügen ein paar Anzeichen und die alten Feindbilder und Gefühle tauchen wieder auf, als ob keine Zeit verstrichen wäre.
Kognitive Dissonanz
Wenn der andere mal als Feind vom Unterbewusstsein eingestuft wurde, dann tendiere ich dazu, seine Absichten als böse zu empfinden und seine Ideen als gefährlich oder schlecht. Und ebenso beurteile ich die Absichten meiner Gruppe als gut und was sie tut als positiv. Wenn meiner eigenen Gruppe ein Fehler bewiesen werden kann, entsteht eine «Kognitive Dissonanz». Dies wird als sehr unangenehm empfunden, ich bin alarmiert und fühle mich angegriffen, versuche mich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Der Wissenschaftler Antonio Damasio hat die Forschung, die die Emotion über und vor die Rationalität stellt, in dem Buch «Ich fühle, also bin ich» vorgestellt.
Heutzutage wissen wir: je stärker die Emotion, desto schwächer wird die Aktivität in der Hirnrinde, das heiβt, desto schwächer wird das rationale Denken und die Fähigkeit zur selbstkritischen Wahrnehmung (der berüchtigte Balken in meinem Auge) bis hin zu den extremen Zuständen, in denen ich impulsiv meine durch die Evolution vorgegebenen Muster abspiele oder die Realität auf groteske und gefährliche Weise verzerre. Das heiβt, bei intensiven Emotionen werden wir im wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Wenn im normalen Umgang eine intensive negative Emotion auftaucht, vergeht sie nach dem Konflikt wieder und meine Wahrnehmung normalisiert sich. Dadurch kann ich meinen Beitrag zum Problem erkennen und im besten Falle sogar meinen Teil der Verantwortung auf mich nehmen und mich entschuldigen. Aber beim Trauma bleibt die Emotion über einen langen Zeitraum hinweg bestehen und ich sehe nur die Fehler der anderen und mich und meine Gruppe als Opfer.
Blick nach vorne
Gibt es da überhaupt einen Ausweg? Die Antwort lautet: Ja, aber der Weg ist schwierig und bedarf der Bereitschaft der Veränderung sowie des persönlichen Wachstums. Es fängt damit an, dass ich meine Wahrnehmung nach innen richte, also auf den Balken in meinem Auge, statt auf den anderen und mir meiner Emotionen und Körpergefühle bewusst werde. Dann kann ich Verantwortung übernehmen für meine verzerrte Wahrnehmung und eine bewusste Entscheidung treffen: dem anderen einfach zuzuhören, mich dabei immer wieder zu beruhigen ‒ denn es ist die Geschichte des anderen und kein Angriff ‒, mit dem Gefühl der Liebe für die gemeinsame Familie in Kontakt treten und die Leidensgeschichte des Ehepartners verstehen und anerkennen. Plötzlich geht es nicht mehr darum, wer recht hat, sondern das Leiden des anderen zu verstehen und «Mit-Leid» zu entwickeln.
Und im Falle dieses Ehepaares geht es darum zu verstehen, dass die Vergangenheit vorbei ist, dass jede Familie das getan hat, was Ihr notgedrungen verzerrtes Weltbild und ihre Biographie ihnen erlaubte. Das hat sich keiner ausgesucht, es sind unsere ererbten biologischen Mechanismen, so dass es keinen Guten und Bösen gibt. Wichtig ist, dass viele Jahre später der Blick nach vorne geht, mit der gemeinsamen Verantwortung aus den Fehlern der vorhergehenden Generationen zu lernen. Denn sie alle waren Teil eines Systems, das am Ende keinen glücklich gemacht hat in der traumatischen Zeit. Jetzt besteht die Möglichkeit, die Verantwortung zu übernehmen und daraus zu lernen. Einen Vorteil hat das Ehepaar im 21. Jahrhundert. Sie können die Mechanismen verstehen, die hinter ihren prägenden Erfahrungen liegen und Empathie durch Meditationstechniken regelrecht erlernen und üben. Das ist möglich, weil sie entscheiden, dass ihre Liebe gröβer sein soll als der Konflikt.