Flucht mit dem Mund voller Kirschkerne
Zwischen Mauerbau im Sommer 1961 und Mauerfall gelang mindestens 5.075 DDR-Bürgern die Flucht. Auf zum Teil abenteuerliche Art und unter Lebensgefahr, beispielsweise mit dem selbstgenähten Heißluftballon, einem umgebauten Surfbrett oder aufwendig gegrabenen Tunneln. Die genaue Anzahl der gescheiterten Fluchten ist bis heute nicht bekannt. Dr. Kathrin Steinbach, Biologie- und Chemielehrerin an der Deutschen Schule Santiago, berichtet dem Cóndor über ihre eigene, spektakuläre Flucht in die Freiheit.
Die promovierte Biologin lebt seit Februar 2017 mit ihrem Mann Helmuth Biernoth, der ebenfalls als Lehrer an der Deutschen Schule tätig ist, in Santiago. Ihre Tochter ist dort Abiturientin. Wer sie kennenlernt, ist sofort von ihrer reflektierten Art zu sprechen beeindruckt. Die eigene Fluchtgeschichte ist für sie «eher eine Nacherzählung der Geschichte ihrer Eltern». Kein Wunder, denn Kathrin Steinbach war damals noch nicht einmal sechs Jahre alt.
Wir schreiben das Jahr 1967, es ist ein heißer Sommer, einer jener, die in späteren Jahrzehnten «Jahrhundertsommer» genannt würden. Der Mauerbau liegt schon sechs Jahre zurück. Kathrin Steinbach lebt mit ihrer Mutter Brigitte in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt. Ihr Vater Walfried ist Ende der 1950er Jahre nach Stuttgart gegangen, einer jener rund drei Millionen DDR-Bürger, der die noch bis 1961 offene Grenze nutzte, um sich im Westen ein anderes Leben aufzubauen.
«Mein Vater wollte unbedingt Luft- und Raumfahrttechnik studieren. Das System der DDR war damals so, dass die Lehrer in der Oberstufe entschieden, ob oder was jemand studieren durfte. Das Wunsch-Studium hatte man ihm nicht angeboten und das war für meinen Vater inakzeptabel», erinnert sich Kathrin Steinbach. Er nutzte eine legale Ausreisemöglichkeit über von den amerikanischen Besatzern angebotene Flüge von Berlin in den Westen und ging nach Stuttgart. Dort machte er erst eine Mechanikerlehre, bevor er seinen Traum vom Studium der Luft- und Raumfahrttechnik verwirklichen konnte.
Erste Fluchtpläne
Ihre Eltern kannten sich noch aus der Schule und die Liebesbeziehung hatte über die innerdeutsche Grenze hinweg Bestand. Doch nur Verwandtenbesuche in den Ferien oder kurze gemeinsame Urlaub in Ungarn konnten dem Paar und bald auch jungen Familie nicht genügen. Eine belastende Situation.
In Kathrins Vater reift ein Fluchtplan. Kathrin Steinbach schätzt: «Es war bestimmt eine Entwicklung von zwei, drei Jahren, bis das überhaupt angesprochen wurde. Mein Vater war sich bewusst, dass meine Mutter und ich wegen ihrer Arbeit beim Landwirtschaftsministerium und der Verbindung zu ihm unter Stasi-Aufsicht standen und er mit besonderer Vorsicht vorgehen musste. Alle wussten, dass die Flucht für alle Beteiligten sehr gefährlich war und im Gefängnis enden konnte.»
Aber ihr Vater lässt sich davon nicht abhalten. Er nimmt die Dinge in die Hand und tüftelt genau aus, wie es gelingen soll. «Mein Vater ist ein sehr organisierter Mensch und bedenkt immer alles sehr genau», beschreibt ihn die Tochter. Seine Idee: Tochter und Verlobte sollen mit einem Auto über die Grenze gebracht werden. Und zwar mit einem Auto, das nicht auf den ersten Blick als «gewöhnliches» Fluchtauto gilt. Die Wahl fiel auf eine BMW Isetta, ein in der Nachkriegszeit beliebtes Rollermobil für maximal zwei Passagiere, im Volksmund „Knutschkugel“ genannt. Der gewiefte Ingenieurstudent baute Motor und Tank aus und in verkleinerter Form wieder ein. So würden zwei weitere Passagiere für eine gewisse Zeit versteckt über die Grenze gebracht werden können.
Geschickte Täuschung der Stasi
Weiterer Aspekt des Plans: das Fluchtauto konnte er nicht selbst fahren. Zu verdächtig hätte es ausgesehen. Fahrerinnen sollten zwei Studienfreundinnen des Vaters sein, die nicht mit Kathrin Steinbach und ihrer Mutter in Verbindung gebracht werden könnten. Ein hohes Risiko: beiden Frauen hätte bei einem Scheitern der Flucht Verhaftung und Gefängnis in der DDR gedroht. Zumal die Stasi sehr genau im Auge hatte, wer mit wem Kontakte unterhielt.
«Es wird für mich zeitlebens immer unbegreiflich sein, dass sich die beiden bereit erklärt haben, dieses Risiko einzugehen – für eine Frau und ihr Kind, die sie eigentlich nur über den Verlobten freundschaftlich kannten», hebt Kathrin Steinbach den Mut der Fluchthelferinnen hervor. Eine Verbindung für das Leben sollte entstehen: «Beide Fluchthelferinnen waren dann auch später eng mit unserer Familie befreundet. Sie waren für mich auch immer so etwas wie Patinnen.»
Der Vater entscheidet sich für eine weitere Absicherung der Flucht. Vorgeblich fahren Kathrin und ihre Mutter in den Sommerurlaub nach Ungarn, um dort den Vater zu treffen. Der tut in Budapest so, als wartete er verzweifelt auf die beiden, die nicht mit dem angegebenen Zug ankommen. Damit lenkt er die ungarischen Behörden und ostdeutschen Stasi-Mitarbeiter ab, die sich nun auf die Suche im Bahnverkehr konzentrieren. Währenddessen steigen Kathrin und ihre Mutter kurz vor der tschechischen Grenze aus dem Zug und in die kleine Isetta um. Alle für den vermeintlichen Sommerurlaub gepackten Koffer bleiben in der Bahn, die ohne sie weiterfährt. Damit die kleine Kathrin still hält, bekommt sie für die Fahrt eine Tüte Kirschen und die Anweisung «ja keinen Mucks zu machen».
Glückliche Ankunft
Die beiden Fluchthelferinnen hatten ein Besuchervisum für die DDR und kamen anstandslos bei Hof an der bayerischen Grenze durch die Kontrollen. Als sie kurz nach dem Grenzübertritt stoppen, um das Auto für die Weiterfahrt zu wechseln, macht die Anspannung lautem Gelächter Platz. Grund dafür: die kleine Kathrin, die während der Fahrt Kirschen genascht, aber die Kerne in ihren Backen gesammelt hatte. «Ich hatte wahre Hamsterbacken, denn schließlich sollte ich keinen Ton von mir geben und daran habe ich mich gehalten.»
Dass den Flüchtlingen doch noch einmal das Lachen vergehen sollte, wird in Stuttgart klar, als sie unverschuldet in einen Autounfall geraten. Polizei und Krankenwagen kommen, die Mutter gerät angesichts der Uniformierten in Panik. Sie hat Angst, wieder in die DDR zurückgeschickt zu werden. Der den Unfall aufnehmende Polizist muss sie beruhigen und bittet sie, am nächsten Morgen aufs Kommissariat zu kommen. Kathrins Mutter geht mit gemischten Gefühlen dorthin, doch der Beamte hält die vorläufigen Ausweispapiere als westdeutsche Bürger schon in der Hand. Ein glücklicher Moment für Mutter und Tochter: «Seit diesem Tag waren wir Bürger der BRD und konnten schon bald mit meinem Vater unsere familiäre Vereinigung feiern.»