Wie lernt man eigentlich Meinungsfreiheit und den aufrechten Gang?
Von Pastor Johannes Merkel
Wer zusieht, wie ein Kind aufwächst, wird immer wieder staunen, was so ein Baby alles lernen muss. Ganz banale Dinge wie Einschlafen. Nach dem anstrengenden Aufstellen auch das einfach scheinende Wiederhinsetzen. Von Greifen und Kauen, Rollen und Robben ganz zu schweigen.
Zwischen den Zeilen lesen
Heutzutage ist oft vom lebenslangen Lernen die Rede und so müssen Jugendliche, Erwachsene und Rentnerinnen immer weiter Lernen. Auch dabei gilt es bisweilen, harte Nüsse zu knacken. So hatten Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, viele erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. Sie konnten zwischen den Zeilen lesen und so kritische Beiträge entschlüsseln. Sie wussten, wann man sich der offiziellen Sprachspiele von Partei und Staat zu bedienen hatte, und wann man im kleinen Kreis ehrlich sein durfte. Sie hatten ein ausgeprägtes Gespür dafür, was erlaubt und was nicht mehr erlaubt war.
Man könnte noch manches aufzählen, aber die interessante Frage lautet: Wie und wo haben die Menschen im Wendeherbst 1989 plötzlich die Fähigkeit hergenommen, in aller Öffentlichkeit Kritik zu äußern, Veränderungen zu fordern, scheinbar Unhinterfragbares in Frage zu stellen? Wie lernt man eigentlich Meinungsfreiheit und den aufrechten Gang?
«Gebete für unser Land»
In der DDR-Schule bestimmt nicht. Aber in der Kirche. In Moritzburg fanden seit dem 3. Oktober 1989 regelmäßig «Gebete für unser Land» statt. Das Herzstück dieser Veranstaltung war ein großer Freiraum. Dieser konnte genutzt werden, um in der Stille seinen Gedanken nachzuhängen. Man konnte aber auch nach vorne in den Altarraum gehen und dort in eines der Mikrophone sprechen. Das eine war in Richtung des Altars, zu Gott, gewandt; das andere in Richtung der Bankreihen, wo alle für den Frieden beteten.
Information war damals ein rares Gut – in den offiziellen Medien spielten Ereignisse wie die Montagsdemonstrationen, die Gründung von Bürgerbewegungen oder Oppositionsparteien und die Massenflucht in den Westen keine Rolle. So war es gut, nach vorn zu dem Mikro zu gehen und einander zu erzählen, was man dazu wusste. Das man über solche «staatsfeindlichen» Dinge nicht unter der Hand, sondern in aller Öffentlichkeit sprach, war radikal neu. Keiner wusste, wie viele Spitzel der Staatssicherheit in der Kirche saßen. Keiner wusste, wie es weiter gehen würde in diesem Herbst.
Da schien es fast leichter, ein Gebet zu formulieren. Angst und Hoffnung, Wut und Trauer vor Gott zu bringen. Der eine fürchtete, dass Panzer rollen wie im Juni in Peking. Die andere wünschte sich, dass die Regierung endlich aufwacht und Offenheit einzieht, wie in Moskau unter Gorbatschow. Jemand dankt, dass ein Bekannter wieder frei ist, nachdem er auf einer Demonstration verhaftet worden war. Jemand bittet, dass es zu keinen Verhaftungen mehr kommen möge.
Auch das Beten ist nicht für jeden selbstverständlich und so wurden die beiden Mikrophone in der Moritzburger Kirche anfangs nur zögerlich benutzt. Manche waren mutig oder zornig und sprachen mit lauter Stimme. Andere mussten Mut sammeln und hauchten ihre Worte. Bei jedem «Gebet für unser Land» sprachen mehr Leute da vorne. Der Freiraum wurde immer mehr dazu genutzt, in der Öffentlichkeit frei seine Meinung zu äußern. Dabei wurde auch mal einander widersprochen. Dabei kamen viele ganz persönliche Dinge zur Sprache. Dabei ging es auch um Probleme, die die Menschen schon länger beschäftigten, wie die miserable Qualität des Trinkwassers im Ort.
«Hier schöpften sie Mut»
Die Kirche war zu dieser Zeit noch keine 90 Jahre alt. Und sie hatte doch schon viele Menschen unter ihrem Dach gehabt: Liebespaare mit Tränen in den Augen am Hochzeitstag; SS-Männer, die ihr mit Feuer zu Leibe rücken wollten; Verzweifelte Menschen, die einen lieben Angehörigen verloren hatten; Alte und Junge, die sonntags Psalmen lesen, Lieder singen, eine Predigt hören. Jetzt nutzten Menschen ihren Raum, weil sie sich hier ein wenig sicherer fühlten. Sicher, weil man hier nicht allein war. Sicher, weil die Staatsmacht doch wohl wenigstens eine Kirche achten würde. Sicher, weil es hier altbekannte Formen, wie das Gebet gab, mit denen man ganz Neues ausprobieren konnte.
In ihrer Kirche lernten Moritzburgerinnen und Moritzburger aufzustehen und das Wort zu ergreifen. Hier sprachen sie frei, gerade auch, wenn es alle hören konnten. Hier schöpften sie Mut, dass Veränderungen im Land möglich sind. Hier teilten sie ihre Angst. Hier sangen sie: «Wenn die Wende ins Stocken käme, dann reis’ ich nicht aus. Dann bleibe ich hier und geh mit dir zu Demonstration.»
So hätte es auch keinen besseren Ort als diese Kirche für die erste freie Bürgerversammlung im Dorf geben können. Es waren so viele Menschen gekommen, dass sie beim besten Willen in der Schulspeisung keinen Platz fanden. So zogen sie zur Kirche. Einige betraten sie wahrscheinlich das erste Mal in ihrem Leben. Und sie staunten nicht schlecht, was ihre Mitbürger in den «Gebeten für unser Land» dort schon alles gelernt hatten. Diesmal wurde über die echten Probleme im Land und vor Ort geredet. Die alten Floskeln waren nicht mehr gefragt. Es gab ein Mikrophon, an dem alle reden konnten. Die Verantwortlichen wurden kritisiert und mit Fragen gelöchert. Viele sagten frei, was sie dachten. Steine flogen keine. Aber eine angeregte Diskussion entspannte sich.
Ein Jahr zuvor hätte man sich dies in den kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt: Der Bürgermeister und andere Offizielle sitzen in der Kirche und müssen Rede und Antwort stehen. Die Bürger schweigen nicht vor Angst, noch sagen sie das, was man von ihnen erwartet. Aufrecht stehen sie hinter dem Mikrophon, geben ihre Meinung kund, stellen Fragen. Die Anwesenden geben sich nicht damit zufrieden, dass von vorne gesagt wird, was gut und richtig ist. Nein, sie diskutieren und streiten, fordern Rechenschaft und machen Vorschläge.
Man könnte es ein Wunder nennen, was da in kurzer Zeit geschah. So wie es ein Wunder ist, dass ein Kind plötzlich aufsteht und die ersten Schritte geht, die ersten Worte formt.