Schach der Unterernährung
1952 war die Kindersterblichkeit dermaßen hoch, dass die Lebenserwartung der Chilenen 32 Jahre betrug. Heute, nach 67 Jahren ununterbrochener harter Arbeit, ist sie auf 82 Jahre gestiegen.
Als Fernando Mönckeberg sein Arztstudium beendet hatte, wusste er nicht so recht, welche Fachrichtung er einschlagen würde. «Ich meinte zunächst, dass die Psychiatrie die zweckdienlichste wäre, meiner damaligen Furcht entsprechend, anderen Menschen gegenüber Verantwortungen zu übernehmen. In dem Sinne kam mir die Psychiatrie damals als die am wenigsten gefährliche Fachrichtung vor», lacht er. «Als ich mich aber für die Kinderheilkunde entschieden hatte, lud mich ein Kommilitone ein, der einen ausgeprägten Sinn für Sozialarbeit hatte, ihn zur Siedlung La Legua in Santiago zu begleiten. Das war meine erste Fühlungnahme mit der Unterernährung. Zwei Jahre verbrachte ich mit jener Wirklichkeit unseres Landes.» In jener Zeit war die Armut in Chile außerordentlich groß. «Wir waren wahrscheinlich das ärmste Land der Region», glaubt Mönckeberg. In diesem Umfeld stellte er fest, «welch einen Schaden die Armut den Menschen während seiner frühen Lebensjahre zufügt.» Er stellte sich nun die Frage, was anhand dieses hoffnungslosen Sachverhalts zu tun sei. Seine Schlussfolgerung war, dass man wissenschaftlich vorgehen müsste, um der Problematik Herr zu werden.
«Opfer der Armut und des Elends»
An seinem Schreibtisch am Hauptsitz der Corporación de la Nutrición Infantil (Conin) in Santiago, die er im Jahre 1975 gründete, vermittelt Dr. Mönckeberg einen heiteren, entspannten Eindruck. Im Juni vollendete er sein 93. Lebensjahr, was man ihm beileibe nicht anmerkt. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Nationalpreis für Medizin ausgezeichnet. Während er mit leiser Stimme, sachlich formulierend erzählt, huscht oft ein Lächeln über sein Gesicht. Bescheiden klammert er die eigene Person während seines Berichts aus, denn für ihn sind die «Opfer der Armut und des Elends» die Protagonisten seiner Lebensaufgabe. Fernando Mönckeberg ist verheiratet, hat acht Kinder, die ihm «mehr als 30 Enkel und um die 20 Urenkel» geschenkt haben. Schmunzelnd meint er dazu:«Eine Explosion – seid fruchtbar und mehret euch!»
Anfang der 1950er Jahre gab es in Chile keine Einrichtung, die über Mittel verfügte, um wissenschaftliche Forschungen zu betreiben, erinnert sich Mönckeberg. Das Problem konnte er nach einiger Zeit in den Griff bekommen: Als er mehrere Abhandlungen in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatte, wurden ausländische Institutionen auf ihn aufmerksam. So erhielt er von der Guggenheim Foundation ein Stipendium. Zwei Jahre hielt er sich in den USA auf: «Der größte Vorteil dabei war, zu lernen, wie die Institutionen, die der Forschung helfen, ihr Amt ausüben, wie die Rockefeller Foundation oder die Ford Foundation.» Diese Stiftungen stellten Forschern erhebliche Geldsummen zur Verfügung, wenn diese gut begründen konnten, was sie vorhatten.
18 Jahre kontinuierliche Arbeit
Mönckeberg machte sich an die Arbeit und erhielt in der Tat eine beträchtliche Geldsumme, die ihm ermöglichte, nach seiner Chile-Rückkehr eine Gruppe Experten aus den Gebieten der Biologie und der Psychiatrie zusammenzuführen, um den verschiedenen Faktoren, die die Armut und die Unterernährung verursachen, auf den Grund zu gehen. Hieraus entstand mit der Zeit ein effizientes Arbeitsteam, das im Jahr 1974 das Inta (Instituto de Nutrición y Tecnología de los Alimentos) gründete.
Während der Militärregierung erlebte das Werk Mönckebergs und seiner Mitstreiter eine Blütezeit, «da wir 18 Jahre kontinuierlich arbeiten konnten. Bei Regierungen, die dagegen vier Jahre währen, muss man vor jeder dieser Perioden den Behörden alles neu erklären und sehen, dass sich die Projekte aufrechterhalten.» Diese Kontinuität wirkte sich sehr positiv auf die Forschungen aus. Eine der Ursachen der Unterernährung war ein Teufelskreis von nicht vorhandener Bildung und extremer Armut und Not.
Als Dr. Mönckeberg 1952 mit seiner Forschungsarbeit begann, lag die Lebenserwartung aufgrund der hohen Kindersterblichkeit bei 32 Jahren. So gut wie die Hälfte der chilenischen Kinder starben vor dem 15. Lebensjahr. «Die Erwachsenen waren klein, sie hatten kurze Beine, was eine Folge der chronischen Unterernährung ist», erläutert er. Diesen extrem negativen Sachverhalt zu ändern kostete Zeit, Geldmittel und Durchhaltevermögen. Die Ergebnisse liegen auf der Hand: Zwei Generationen später stieg die Körperlänge um 25 Zentimeter und die Lebenserwartung liegt heute bei 82 Jahren. Conin baute landesweit 36 Krankenhauszentren mit je 50 Betten auf, um schwer Unterernährte zu behandeln. In den herkömmlichen Hospitälern waren solch fachgerechte Therapien nicht möglich. «Dort starben damals die Patienten wie die Fliegen», erinnert sich Mönckeberg.
Mit den Jahren bekamen die Conin-Experten das Problem nicht nur in den Griff, sondern hatten auch mit ihren Präventiv-Programmen einen derartigen Erfolg, dass die Institution sich verkleinerte: Heute zählt Conin insgesamt neun Zentren, in denen zum einen chronisch Kranke und zum anderen Unterernährte, die zum größten Teil aus dem Ausland kommen, meist Haitianer und Venezolaner, behandelt werden.
Für Dr. Mönckebergs Verdienste und Erfolge bei der Bekämpfung der Unterernährung wird der Deutsch-Chilenische Bund ihn im Rahmen der kommenden Jahreshauptversammlung mit dem Orden Vicente Pérez Rosales ehren..