30 Jahre Mauerfall, 29 Jahre deutsche Einheit – und ganz persönliche Erinnerungen
Cóndor-Autor Arne Dettmann erinnert sich an seine ganz persönlichen Erlebnisse mit der DDR und der Mauer – an finstere Grenzpolizisten, selbst gemachte Waffeln und viel Herzlichkeit.
Am Anfang meiner Erinnerung stehen die Care-Pakete. Damit sind nicht die Nahrungsmittelhilfen der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint, aber doch so ähnlich. Wir schnürten zu Hause Pakete mit Westprodukten für Verwandte, die ich noch gar nicht kannte. Meine Mutter wurde nämlich 1944 in dem kleinen Nest Tollow in Mecklenburg geboren, und ihre Eltern hatten nach dem Krieg herüber gemacht, so dass ich das Glück der Geburt hatte, im Kapitalismus aufzuwachsen, während alle ihre Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen in der DDR blieben. – Das klingt zynisch, aber so sah ich es jedenfalls damals als Kind. Und die Pakete bestätigten mir, dass man dort drüben offenbar nichts hatte, nicht einmal Bananen.
Ja, sie hatten dort drüben auch keine Coca-Cola. Ich merkte das erst, als ich mir den derben Fauxpas leistete und einmal in einer DDR-Gaststätte dieses dekadente Westprodukt bestellte. «Haben wir hier nicht!», wurde ich angefaucht und ideologisch zurechtgewiesen. Freundlich war das nicht gerade. Und überhaupt kam mir dieses ganze Land unfreundlich vor: An der Grenze wurde das Auto meiner Eltern komplett auseinandergenommen und im Tank herumgestochert, während ich kleiner Junge den Grenzpolizisten nett anlächelte, der mich aber nur finster ansah. Den Rest dieser Republik empfand ich als steingrau, trostlos und irgendwie hinter dem Mond. So viel zum Thema kleiner verwöhnter Wessi.
Die Herzlichkeit der Verwandten
Völlig konträr dazu standen die Verwandten. Die Herzlichkeit, mit der wir auf unseren Reisen in diese andere Welt empfangen wurden, trieb mir die Schamesröte ins Gesicht. Wie konnten sie nur so gutmütig, offen und fröhlich sein? So viel Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit gab es im Westen nicht. Warum bloß?
Auf dem Bauernhof von Onkel Heiner und Tante Ille stampfte ich Kartoffeln für die Schweine und versuchte mich im Milchmelken. Mein Vater drehte eine Runde mit dem «Trabant», einer DDR-Automarke, die angeblich den schnellsten Rückwärtsgang der Welt aufwies. Bei allen Besuchen gab es viel Kaffee und Kuchen, dickflüssige, kalorienschwere Bratensoße und nochmals viel Gefühlswärme.
Dass Deutschland geteilt war, dass es eine Mauer gab, Fluchtversuche mit Toten – das alles war für einen kleinen Jungen im Grunde nicht verständlich. In West-Berlin zwischen Reichstag und Mauer betrachtete ich verwundert die Holzkreuze, die dort an DDR-Flüchtlinge erinnerten, die es nicht geschafft hatten. Weit hinter dem Brandenburger Tor erblickte ich Passanten. Das war die andere Welt, die mir viel weiter weg vorkam als griechische Inseln während unserer Ferien.
Eine Trabikolonne in Hamburg
Dann fiel die Mauer. Eines frühen Morgens parkte bei uns ein Trabant vor dem Haus. Eine Cousine meiner Mutter war mit ihrem Mann und der Tochter nach Hamburg gekommen – und nicht nur sie. Ein Korso von «Trabis» schob sich lautstark hupend und blau qualmend durch die Innenstadt, begleitet von jubelnden, winkenden Wessis. Es war der reinste Wahnsinn. Das Glück über die Grenzöffnung, der erste Besuch im Westen, die Euphorie – Mutters Cousine wurde es zu viel, sie musste sich erst einmal übergeben.
Drei Jahrzehnte ist das her. Im Juli dieses Jahres machten wir eine dreitägige Stippvisite in Berlin. Am Brandenburger Tor bemühte ich mich, meiner chilenischen Ehefrau und unseren beiden Jungs zu erklären, wie das damals nun war mit der Teilung. Man kann das sachlich erläutern. Aber emotional wird´s schwierig. Wie soll ich dieses Gefühl vermitteln, als damals Pakete aus der DDR ankamen, in denen die Verwandten selbst gemachte Waffeln, selbst gestrickte Wintersocken und Naturkundebücher eingepackt hatten? Oder wenn mein Großvater über das Haus seines Vaters in Rostock sprach, das er hinter dem Eisernen Vorhang verloren hatte?
Selfies an der Mauer und Checkpoint Charlie eine Disney-Attraktion
Der berühmte Grenzübergang Checkpoint Charlie kam mir jetzt wie eine kitschige Disney-Attraktion vor. Selfies mit als Wachsoldaten verkleideten Statisten. Hier, wo einst zwei Weltmächte sich hoch aufgerüstet ganz nah gegenüberstanden, zeugt nichts mehr von der Brisanz und der Tragik dieses deutschen Dramas. Diesseits und jenseits – man muss es vielleicht selbst ein wenig miterlebt haben, um es glauben zu können.