Von der Ohnmacht, beim Umweltschutz alles richtig machen zu wollen und doch schuldig zu sein
Von Arne Dettmann
Jeden Tag eine gute Tat. Das sagte immer meine Mutter, um mich zu animieren, wenn ich mal wieder keine Lust hatte, ein guter Mensch zu sein. Doch heute sind wir alle gute Menschen. Wenigstens hier in Deutschland.
Die gute Tat beginnt schon am frühen Morgen. Der Kaffeefilter wird nicht einfach in den Müll geworfen, sondern kommt in eine biologisch abbaubare Tüte, in der wir den organischen Abfall sammeln. Der landet dann in der grünen Bio-Tonne.
Und so geht es weiter in Sachen Umweltschutz: Papier, Verpackungen, Glasflaschen, Batterien – Mülltrennung und Recycling sind selbstverständlich. Einkaufen ohne Plastiktüten ebenso, besser noch im Bioladen. Ganz in der Nähe bei uns steht eine Ladestation für Elektro-Autos. Nicht nur wir werden reiner und sauberer, auch die Luft. Seit fünf Monaten wohne ich nun wieder in meiner alten Heimat Hamburg und werde das enthusiastische Gefühl nicht los, dass ich Teil einer Weltverbesserungsavantgarde bin, die den Klimawandel doch noch stoppen und aus dem blauen Planten wieder eine schöne neue Welt machen kann.
Bei der Europawahl Ende Mai verdoppelten die Grünen ihren Stimmenanteil in Deutschland auf 20 Prozent, knapp hinter der CDU mit 22,6 Prozent und schon vor der SPD mit 15,8 Prozent. Laut Umfragen könnte die Öko-Partei bei der Bundestagswahl zweitstärkste Kraft werden. Der grüne Zeitgeist aus Verkehrswende, CO2-Steuer und den FridayForFuture-Demos hat die Regierungsparteien CDU und SPD längst unter Zugzwang gesetzt, ebenfalls auf grün zu schalten.
Erste Zweifel und die sechs Sklaven
Aber dann tauchen die ersten Zweifel auf. Mit einem alten Freund fahre ich durch die Stadt, wir unterhalten uns über Umweltverschmutzung und kommen darüber auf die Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern zu sprechen. Plötzlich weist mein Kumpel auf seine Jeans und meint verbittert: «Ja, diese hier haben meine sechs Sklaven in der Dritten Welt hergestellt. Denn das Muster darin wurde nicht mit Maschinen gemacht, sondern musste mit Rasierklingen eingeritzt werden – für einen Hungerlohn.» Ich schlucke und blicke auf meine eigene Hose. Woher mag die wohl kommen?
Sie stammt aus China, wie ich später im Etikett nachlese. Wie halten die es eigentlich dort mit Umweltschutz? Man hört ja eher von Riesenstädten, die im Smog versinken. Die setzen dort wahrscheinlich noch nicht so sehr auf Elektro-Autos, wie wir es tun, oder?
Für die Herstellung einer Jeans werden stolze 8.000 Liter Wasser benötigt – auch wenn ich mich hier in Deutschland redlich bemühen sollte, bei der Toilette die Sparspülung zu betätigen. Und für die Produktion von Kaffeebohnen, deren Pulver ich jeden Morgen verbrauche, um einen Becher Kaffee zu trinken – ich schlürfe immer zwei und einen weiteren am Nachmittag – werden 140 Liter aufgewendet. Ganz unabhängig davon, ob ich den Kaffeefilter anschließend auf den Kompost werfe oder nicht.
Heuchler und Scheinheilige
Es sind dann weitere Meldungen, die einem endgültig den grünen Zeitgeist vermiesen. Die Zahl der Flugreisen in Deutschland hat zugenommen. Nix von wegen CO2-Sparen! Der Marktanteil von Diesel-Pkw ist gestiegen, ebenso der Anteil von Neuwagen mit mehr PS. Verzicht aus Liebe zur Umwelt? Pustekuchen! Und der Anteil von Bioprodukten beim Fleischkonsum beträgt in Deutschland magere ein Prozent, während insgesamt der Pro-Kopf-Verbrauch an Steaks und Würstchen aus Massentierhaltung für den Grill zugenommen hat. Die ach so grünen und umweltbewussten Deutschen sind ein Volk von Heuchlern und Scheinheiligen.
Die Sündenliste ließe sich weiter fortsetzen. Billige Kleidung wird mehr gekauft und auch schneller weggeworfen. Verzichten will offenbar niemand gerne, auch ich nicht. Ich will weiterhin meinen Kaffee trinken und meine Jeans tragen. Ich möchte weiterhin im Sommer grillen, obwohl wir Holzkohle und Tierfutter aus Entwicklungsländern kaufen, für die Regenwald gerodet wurde, während die EU gleichzeitig subventionierte Überschüsse in die Dritte Welt exportiert und dort durch unfaire Konkurrenz zum Niedergang der Landwirtschaft beiträgt. Und mal ehrlich: Wer verzichtet schon gerne aufs Autofahren und eine Flugreise, selbst wenn dabei Kerosin verbrannt und noch mehr Umweltgifte in die Atmosphäre gelangen? – Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Umweltschutz auf der Wohlstandsinsel
Der wohlgemeinte Anspruch in Sachen Natur- und Umweltschutz auf unserer Wohlstandsinsel entpuppt sich ohnehin als absurd. Selbst wenn ich mich in meinem Konsum radikal einschränke – was würde das überhaupt nützen? Ich kann jeden Tag weiter mit wiederbenutzbaren Taschen zum Supermarkt laufen und dort teure Bio-Wurst kaufen. Pure selbstgerechte Kosmetik. Denn auf globaler Ebene ist das doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und mit nur einer einzigen Flugreise würde sowieso alles mühsam Erkämpfte wieder zunichte gemacht. Eine Tonne CO2 pro Kopf und Jahr gibt das deutsche Umweltbundesamt als klimaneutral an. Ein Linienflug von Frankfurt nach New York hin und zurück verursacht aber pro Person bereits vier Tonnen Kohlendioxid in der Economyclass, in der Businessclass sind´s fünf. – Der deutsche Durchschnitt liegt übrigens bei 11,6 Tonnen, der vierthöchste Ausstoß weltweit.
Wer dennoch unerschütterlich daran festhält, er könne durch seine guten Taten die Welt doch noch retten, der lese zur Ernüchterung die Bilanz des UN-Vielfaltrats, der kürzlich vorgelegt wurde: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Zwei Drittel aller Meeresgebiete und 60 Prozent der Landoberfläche sind durch menschlichen Einfluss beeinträchtigt. Mehr als 90 Prozent aller Fischbestände sind bis an die Grenze des Verträglichen bewirtschaftet, der Plastikmüll hat sich seit 1980 weltweit verzehnfacht. Im vergangenen Jahr wurden zwölf Millionen Hektar Tropenwald gerodet. Das entspricht der Fläche Bayerns und Niedersachsens. Überdüngung und Schwermetalle überlasten die Ökosysteme, der Mensch hat sich drei Viertel des verbrauchten Süßwassers genommen, um Tiere zu züchten und Landwirtschaft zu betreiben.
Der Mensch, ein Irrtum der Evolution?
«Der hiesige Versuch, die Welt zu retten, ist ehrenhaft, aber global sinnlos», schrieb kürzlich ein desillusionierter «Spiegel»-Leser im Nachrichtenmagazin. Der Zunahme der Weltbevölkerung würde zu nicht gekannten Fluchtbewegungen führen, das bedeute Kampf um die letzten Ressourcen und zugleich die weitgehende Vernichtung der Natur. «Der Mensch war wohl doch ein Irrtum der Evolution – der das aber gleichgültig ist.»
Dass wir dennoch unbeirrbar weiter daran glauben, mit Windkrafträdern und kompostierten Teebeuteln die Welt zu retten, hat auch viel mit Eigen-Marketing und Sich-wohl-fühlen zu tun. Unser Öko-Lifestyle ist letztendlich ein blinder Aktivismus, der unsere eigene Ratlosigkeit sowie Ohnmacht angesichts der Umweltzerstörung überspielt. Es gehört zum Menschheitstraum, dass wir als selbstbestimmte Wesen die Natur in der Hand haben, sie nach unseren Wünschen formen und kontrollieren, um souverän und autonom unser Dasein zu bestimmen. Passiv etwas zu erdulden ist keine Option. Bedrohte uns früher die Natur, so ist sie nun selbst bedroht – durch uns, und nur wir können sie retten. Eine gehörige Portion Chauvinismus schwingt hier schon mit.
Das Dilemma, das Richtige tun zu wollen und sich doch seiner eigenen Schuld bewusst zu sein, thematisierte bereits die griechische Mythologie mit der Gestalt des Öidpus. Vatermord und möglicherweise Inzest bewegen Ödipus am Ende dazu, sich selbst die Augen auszustechen und mit seiner Schande ins Exil zu fliehen. Der moderne Mensch tut Ähnliches: Schon morgen werde ich die Augen verschließen, zurück zu Kaffeefiltern und Recycling fliehen und darüber hoffentlich vergessen, dass ich am Schicksal doch nichts ändern kann. Jeden Tag eine gute Tat.