Zum Glück hatte die Kollegin Silvia Kählert die Kamera dabei, als sie am Montag auf ihrem Weg vom Parkplatz in die Redaktion auf eine nicht enden wollende Menschenschlange im Park Plaza de la Aviación in Providencia stieß. Wofür standen sie wohl an? Es war eine gelungene Marketing-Aktion: Eine Firma verteilte gratis Schutzbrillen!
Die Generation Z hatte per Instagram erfahren, dass es hier noch eine Chance gab, an diese absolut notwendige Ausstattung für das Erleben der totalen Sonnenfinsternis zu gelangen. Normalerweise bekommt man ja immer alles auf der Straße in Santiago, wenn man es benötigt. Wenn es kalt wird, gibt es Mützen; wenn es regnet, werden an jedem Metroausgang Schirme verkauft. So war ich eigentlich davon ausgegangen, noch irgendwo Schutzbrillen über den Weg zu laufen. Aber es gab keine mehr. Das chilenische Prinzip ‘Alles geht immer noch auch auf den letzten Drücker’ schien ausgehebelt. Was war passiert? Ganz Chile hatte sich für die Eklipse vorbereitet – Urlaub genommen, um nach Coquimbo zu reisen oder Mengenbestellungen von Brillen für ganze Büroetagen und Schulklassen aufgegeben. Das Jahrhundertereignis hatte das ganze Land mobilisiert. Oder jedenfalls fast das ganze.
Wer sich nicht ganz sicher war, ob man die Sonnenfinsternis unbedingt sehen musste, der wurde von den Nachrichten am Montag überzeugt: Brad Pitt, Rihanna und Robert Downey Jr. sollten angeblich mit Privatjets in La Serena gelandet sein. Also war es doch ein Muss, dabei zu sein, wenn sich der Mond für wenige Minuten vor die Sonne schieben würde.
Für meine Kollegin Silvia war es klar, dass auch der Cóndor mit dabei sein musste (sie gehörte zu denen, die sich rechtzeitig eine Brille besorgt hatten). Viel Zeit ließ uns die Produktion dieser Ausgabe nicht, aber zumindest konnten wir kurz über die Straße gehen und auf der anderen Seite von Providencia im Park Plaza de la Aviación einen Platz mit Aussicht auf die Sonne suchen. Wir reihten uns in Ströme von Menschen ein, die mit der gleichen Absicht unterwegs waren. Silvias Brille funktionierte – eine knallrote Aureole und der Schatten des Mondes. Ich musste zugeben: Es war tatsächlich beeindruckend.
Doch die Sonne spielte uns einen Streich. Sie machte sich daran, hinter dem Cerro San Cristóbal zu verschwinden. Also bewegten wir uns in einem Schwarm von Menschen immer weiter Richtung Kordillere, zwischen Gebäuden hindurch, den Sonnenstrahlen hinterher und zückten alle gleichzeitig die Brillen, um mit einem kollektiven ‘Ahhh’ doch noch einen kurzen letzten Blick zu erhaschen. Das geteilte Erlebnis hatte etwas, ein bisschen wie der Rausch beim Massenkonzert oder Fußballmeisterschaften.
Hunderttausende haben mit uns diesen Moment erlebt. Allein nach Coquimbo waren 292.000 Touristen gereist, und 70.000 nach La Higuera, dem besten Ort für die Beobachtung. El Mercurio macht am nächsten Morgen mit einem Bild der Eklipse über mehr als Dreiviertel des Titelblattes auf und berichtet auf acht Seiten. Der Kollege Walter Krumbach stellt fest: «Zum ersten Mal hat der Mercurio seinen Namen oben in weißer Schrift und nicht in schwarz gedruckt». Er klingt ein wenig empört über so viel zugestandene Wichtigkeit in Chiles bedeutendster Tageszeitung. Schließlich war er selbst im Moment der Eklipse in einem Supermarkt einkaufen und ist froh, dass der Hype nun endlich vorbei ist.
Doch auch der Cóndor hatte letztendlich nicht wiederstehen können. Wir waren dabei! Schließlich besteht die nächste Chance für ein solches Spektakel in Chile laut Europäischer Südsternwarte ESO erst wieder im Jahr 2231.