«Alle Opfer einbeziehen»
Von Silvia Kählert
Wie kann eine Gedenkstätte der Colonia Dignidad aussehen? Um dieses Thema ging es bei der vom Auswärtigen Amt finanzierten Reise von 14 Missbrauchsopfern der ehemaligen Sektensiedlung Ende Mai nach Berlin. Die Opfer, die in der heutigen Villa Baviera arbeiten, fürchten um ihr Auskommen.
In viereinhalb Stunden erreicht man von Santiago aus Richtung Süden bei Parral die touristische Anlage Villa Baviera – ehemals Colonia Dignidad. Selbst im feuchten Herbst wirken das Restaurant Zippelhaus und Hotel der Villa Baviera gepflegt und freundlich. «An den Wochenenden sind wir oft voll besetzt», bemerkt die Rezeptionistin im Hotel. Tatsächlich sind das Lokal und der Laden mit den vor Ort hergestellten Produkten gut besucht.
Der Verkauf der Produkte sowie Restaurant und Hotel ermöglichen den Opfern ein Einkommen. Doch der Tourismusbetrieb an den Orten des Missbrauchs sorgt auch für Kritik. Nun fürchten einige der Bewohner, dass die geplante Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum diese Einkommensquellen verdrängen könnten. Für sie ist es bisher nicht geklärt, wie sie ihr Auskommen an anderer Stelle auf dem Gelände der Villa Baviera finden werden können.
«Dies ist unser Zuhause»
Deutlich ist jedoch schon jetzt, dass immer mehr Menschen kommen, um etwas über die Verbrechen zu erfahren, die genau in den Häusern dieser Anlage geschahen. Wer Genaueres wissen will, der braucht nur die hier arbeitenden ehemaligen Bewohner zu fragen. Jürgen Szurgelies im Restaurant, Patricio Schmidt Spinti an der Rezeption oder Eva Laube im Laden geben bereitwillig und mit großer Offenheit Auskunft über die schweren Misshandlungen, die sie selber in diesen Räumen erlebt haben.
Sie sind alle drei hier geboren oder als Kinder in die Colonia Dignidad gekommen. Inzwischen leben rund 60 der ehemaligen Bewohner in anderen Orten in Chile und 80 in Deutschland. Circa 100 beschlossen auf dem 300 Quadratkilometer großen Gelände zu bleiben. Jürgen Szurgelies berichtet: «Bis zur Flucht von Paul Schäfer 2005 hatten wir mehr als 14 Stunden jeden Tag wie Zwangsarbeiter schuften müssen und nie Geld bekommen. Trotz der schrecklichen Qualen, die wir hier erleiden mussten, sind wir hier aufgewachsen und dies ist unser Zuhause und unsere Arbeit. Darum führten wir 2005 das Restaurant weiter. In dem Jahr haben wir zum ersten Mal unseren eigenen Lohn erhalten. Nach und nach haben wir diesen touristischen Betrieb aufgebaut, von dem wir jetzt leben.»
Auch ein Museum hat der 55-Jährige mit Hilfe einiger Bewohner eingerichtet, das mit sehr vielen Fotos, Zeitungsartikeln und einigen original erhaltenen Möbeln beschreibt, wie es zu der Sektengründung 1961 durch Paul Schäfer kam und den Alltag in der Colonia Dignidad. «Die Nachfrage ist inzwischen so groß, dass wir nun nicht nur an den Wochenenden, sondern auch wochentags um 11 Uhr Führungen anbieten», stellt Jürgen Szurgelies fest.
«Es war ein langsamer Prozess»
Er und Patricio Schmidt Spinti waren auch unter den 14 Opfern, die im Mai vom Auswärtigen Amt nach Berlin eingeladen worden waren. «Die Dialogveranstaltung war in vielerlei Hinsicht sehr wertvoll», beurteilt Dr. Elke Gryglewski die mit der Gruppe aus Chile verbrachten Tage. Die stellvertretende Direktorin des Hauses der Wannsee-Konferenz organisierte den Besuch. Sie bildet mit Dr. Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, und zwei chilenischen Museumsleitern das Experten-Team für eine Gedenkstätte in der Colonia Dignidad. Die Opfergruppen hatten sich das erste Mal zu einer Dialogveranstaltung 2014 in Santiago getroffen. Daraufhin folgten weitere drei Treffen in Chile sowie 2016 und dieses Jahr in Deutschland.
Ein wichtiges Ziel war es, dass die Opfer sich gegenseitig kennenlernten und informiert wurden, welches Leid jeder erfahren hatte. «Es war ein langsamer Prozess», erklärt Jan Stehle. Der Politikwissenschaftler am Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika in Berlin begleitete die Gruppen bei allen sechs Veranstaltungen. Für die Angehörigen der ermordeten politischen Opfer war es besonders schwer, mit den ehemaligen Bewohnern ins Gespräch zu kommen. «Auf allen Seiten hat es viel Leid gegeben», betont der Wissenschaftler.
Drei Opfergruppen
Elke Gryglewski unterstreicht: «In jedem Fall muss diese Gedenkstätte und dieses Dokumentationszentrum eine unabhängige Trägerschaft haben.» Das sei auch aus dem Grunde wichtig, damit alle unterschiedlichen Opfergruppen vertreten seien.
Die Kommission unterscheidet vor allem drei Gruppen: Zunächst gibt es die Opfer unter den 300 ehemaligen Bewohnern der Colonia Dignidad, die schwerste psychische, physische, teilweise sexuelle Gewalt erlebten. In dem Sekten-System der Denunzierung, Trennung der Familien, ständigen Überwachung und gezielten Demütigung, aus dem es kein Entkommen gab, sind bei vielen bis heute körperliche und seelische Schäden zurückgeblieben.
Dazu gehören die deutschen Erwachsenen, die Schäfer vor allem 1961 nach Chile folgten – zunächst freiwillig aufgrund seines Charismas und seiner Versprechungen. Rund 200 Kinder dieser deutschen Familien kamen nach Chile oder wurden später hier geboren. Ab den 70er Jahren kamen auch chilenische Kinder dazu, die im Hospital auf dem Gelände der Sekte geboren oder aus einer Notsituation der Familien der angeblich guten Betreuung überlassen worden waren.
Inzwischen ist bekannt, dass in dem System des pädophilen Schäfers nicht nur Jungen misshandelt wurden. In dem Buch «Lasst uns reden» von Heike Rittel und Jürgen Karwelat erzählen 15 Frauen in ihren eigenen Worten ihr Schicksal. Sie litten genauso unter dem System Schäfers und seinen Vertrauten, erhielten Prügelstrafen, Elektroschocks oder wurden mit Psychopharmaka ruhig gestellt.
Eine zweite Opfergruppe bilden die chilenischen Kinder, die außerhalb der Siedlung lebten. Sie nahmen an der von Schäfer in den 80er Jahren gegründeten Jugendbewegung teil, waren an den Wochenenden in der Siedlung, wo sie von Paul Schäfer missbraucht wurden.
Eine dritte Gruppe sind die circa 100 verschwundenen politischen Oppositionellen, die während der Militär-Diktatur Pinochets verhaftet und ohne gerichtliches Verfahren auf dem Gelände ermordet worden sind. Außerdem sind hier einige hundert politische Gegner des Regimes gefangen gehalten und gefoltert worden. Ihre Angehörigen, die oftmals weder etwas über die Todesursache oder den Ort der Ermordung erfahren haben, schlossen sich in Interessensverbänden zusammen.
«Zeit für konkrete Schritte»
Elke Gryglewski plant, dass bis September ein Konzept für eine Gedenkstätte der Gemischten Kommission vorgestellt werden soll. Diese wurde 2017 von der deutschen und chilenischen Regierung gegründet, um die Vergangenheit der Colonia Dignidad aufzuarbeiten. Jan Stehle betont: «Es soll ein Ausstellungs- und Dokumentationszentrum mit wissenschaftlicher Expertise sein, wo alle Opfergruppen ihre Geschichte erzählen können und Teil eines Opferbeirats sind.» Der Wissenschaftler fordert nun beide Regierungen auf, möglichst bald die Realisierung einer Gedenkstätte zu veranlassen: «Nach fünf Jahren Gesprächen ist nun Zeit für konkrete Schritte.» 2017 habe schließlich der Bundestag einstimmig für die Aufarbeitung gestimmt, die es nun gelte umzusetzen.
Was die Opfer unter den Bewohnern der ehemaligen Colonia Dignidad angeht, die immer noch in der «Villa Baviera» arbeiten, sieht Jan Stehle den Bau einer Gedenkstätte für sie als eine Chance für einen Neuanfang: «Im Rahmen eines solchen Betriebs wird es ein Seminarzentrum, und daher sicher auch einen Kantinenbetrieb geben, vielleicht auch eine Gärtnerei.» Das letzte Treffen in Berlin habe gezeigt, dass sich fast alle Betroffenen darin einig seien, dass es eine Erinnerungsstätte an den historischen Orten geben muss, erklärt Jan Stehle.
«Villa Baviera bei Konzept berücksichtigen»
«So einfach ist es für uns nicht, das was wir hier aufgebaut haben zu verlassen», stellt Jügen Szurgelies fest. Was seine Erfahrung beim Berlin-Besuch angeht, erklärt er: «Wir waren sehr betroffen von dem Konzentrationslager Sachsenhausen, was die Juden und andere Häftlinge dort erlebt haben.» Er fügt hinzu: «Uns ist mit den Jahren und auch durch die Dialogveranstaltungen klar geworden, dass es wichtig ist zu zeigen, was hier passiert ist.» Auch Anna Schnellenkamp, die den Tourismusbetrieb leitet und hier geboren wurde, ist der Meinung, dass sie eine wichtige Rolle als Zeitzeugen spielen: «Nur wenn wir von unserem Leiden erzählen, kommt die Wahrheit ans Licht.» Daher hat sie auch gemeinsam mit Jürgen Szurgelies dafür gesorgt, dass bei den Führungen Orte, wie die alte Mühle oder der ehemalige Klassenraum, den Interessierten gezeigt werden. «Inzwischen haben wir auch den Kohlenkeller freigeräumt, in dem die politischen Gegner von Pinochet gefoltert und getötet wurden», sagt sie.
Gleichzeitig hoffen beide aber, dass bei der Erstellung des Konzepts einer Gedenkstätte auch der Betrieb der Villa Baviera berücksichtigt wird. «Wir sind Opfer dieses satanischen Sektensystems gewesen. Als Kinder hatten wir keine Chance dem zu entkommen. Nun wollen wir nicht dafür bestraft werden, dass wir hiergeblieben sind», erklärt Jürgen Szurgelies.
Auch die einmalige Zahlung von bis zu 10.000 Euro an die Opfer, die die Bundesregierung kürzlich beschlossen hat, wird kritisch gesehen. Sorgen macht sich Anna Schnellenkamp gerade um die Älteren unter ihnen: «Die Zahlung von 10.000 Euro ist eine sehr gute Geste. Doch was passiert mit denen, die nicht mehr arbeiten können? Sie sollen wenigstens einen würdigen Lebensabend haben.» Auch Jan Stehle hält die einmalige finanzielle Unterstützung der Betroffenen nicht für ausreichend: «Die Opfer brauchen vor allem eine Rentenversicherung.»