
Die Jugend von Lisbeth Claussen in Viña del Mar war von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs gekennzeichnet. Sie musste schon mit 15 arbeiten und heiratete mit 19 ohne den Segen ihrer Eltern.
Von Walter Krumbach
Ihr wechselvolles Leben kam zur Ruhe, als sie und ihre Familie Anfang der 1990er Jahre in eine ruhige Straße des Stadtteils La Reina zogen. Am gemütlichen Haus pflegt sie einen Garten, der bei unserem Besuch, an einem sonnigen Herbsttag, eine wahre Augenweide ist. Rasen und Blumen sind mit Geschmack angelegt, Bäume spenden nicht nur Schatten. Hier erntet Lisbeth Claussen Nüsse und Früchte. Die Heim-Idylle ist kein Vergleich zu früheren Zeiten, als das Vorankommen mit Ehemann und Kindern alles andere als einfach war.
Ihre Kindheit und Jugend in Viña del Mar ist gekennzeichnet von den damaligen wechselvollen Ereignissen. Während des Zweiten Weltkriegs verlor ihr Vater seine Stellung an der Banco Germánico. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Chile und dem Deutschen Reich waren eingefroren, das bis dahin solide Geldinstitut musste schließen, seine Mitarbeiter und deren Familien standen vor dem Nichts. Lisbeths Vater war deutscher Staatsbürger und bekam als solcher keine Arbeit mehr. «Wir waren fünf Kinder», runzelt sie die Stirn, «was hat er nicht alles getan, sogar Bananen hat er verkauft!»
Das Syndikat an der Deutschen Schule Valparaíso
Lisbeth besuchte zunächst die Deutsche Grundschule bei Agua Santa. Nach der 5. Klasse ging sie in die DS Valparaíso. Hier bildeten sich Freundschaften fürs Leben. Mit zwei ehemaligen Klassenkameradinnen – die Gruppe nennt sich «das Syndikat» – trifft sie sich regelmäßig bis auf den heutigen Tag. «Die Freunde sucht man sich aus – im Gegensatz zu den Geschwistern», lacht sie verschmitzt, «für mich sind Freundschaften wichtig und ich bedaure es, wenn ich Menschen treffe, die keine Freunde haben». Als sie in der 10. Klasse war, wurde die finanzielle Lage ihrer Familie kritisch, sodass an einen weiteren Schulbesuch nicht zu denken war.
Lisbeth musste in dieser schweren Zeit, blutjung wie sie war, eine Stellung suchen. Die fand sie bei einer Versicherungsgesellschaft. «Ich tippte Versicherungsscheine ab», erinnert sie sich, «da durfte man keine Fehler machen, denn es war unmöglich, sie auszuradieren. Ich habe viel geweint, wofür ich mich jedes Mal auf der Toilette versteckt habe. Ich war 15 Jahre alt, es war schrecklich!»
Frauenschule in Osorno
Als der Vater später eine Entschädigung erhielt, konnte Lisbeths Weiterbildung wieder in Angriff genommen werden. Sie ließ sich an der Frauenschule in Osorno immatrikulieren, einer Bildungsstätte, die damals zur dortigen Deutschen Schule gehörte. Auf dem Stundenplan standen Hauswirtschaft, Kochen, Nähen, Sticken, Kinderbetreuung, Deutsch, Literatur, Kunstgeschichte und Chorgesang. So wurden damals junge Frauen der deutsch-chilenischen Gemeinschaft auf Ehe und Nachwuchs vorbereitet.
Die Frauenschule war für Lisbeth Claussen der Schlüssel zu einer neuen Weltanschauung: «Ich lernte interessante Menschen kennen. Als ich sie besuchte, stellte ich fest, dass sie ein ganz anderes Leben führten als wir». Besonders gern erinnert sich Lisbeth an die Eisenbahnreisen in die südliche Stadt: «Wir fuhren immer in den herrlichen alten Schlafwagen mit Samtvorhängen, es war jedes Mal ein Abenteuer!»
Verlobung ohne den Segen der Eltern
Als sie 17 war, verlobte sie sich mit Alfredo Kröger, wohlgemerkt ohne den Segen ihrer Eltern. Diese beschlossen, ihre Tochter nach Iquique zu schicken, wo eine Tante von ihr lebte. Der Hintergedanke Lisbeths Eltern war es, dass sie längere Zeit so weit entfernt wie möglich von ihrem Verehrer verbringen sollte, um ihn zu vergessen.
Aber genau das Gegenteil trat ein. Die beiden Liebenden blieben ständig in Kontakt. Schließlich wurde ihnen die lästige Kontrolle zu bunt und der Bräutigam, der auf dem Luftstützpunkt der FACh in Quintero im Fernmeldewesen arbeitete, organisierte ihr ein Flugzeug, welches sie in Iquique abholte: «So bin ich von zu Hause weg und habe gegen den Willen von allen geheiratet».
Lisbeth Claussen war damals 19, und somit nach damaligem Recht nicht volljährig. Am nächsten Tag erschien der Brautvater in Quintero. Er ging stracks zum Oberkommandierenden des Militärflughafens, um ihn über die familiäre Sachlage aufzuklären, aber dieser sagte ihm in beruhigendem Ton: «Regen Sie sich nicht auf, Ihre Tochter ist in guten Händen». Damit war die Sache erledigt. Nach zwei Jahren, als die älteste Tochter geboren war, kam man sich wieder näher.
13 Umzüge
Krögers mussten, wie das bei Beamten der Streitkräfte Brauch ist, oft ihren Standort wechseln. Von Quintero wurde der Funkexperte nach Puerto Montt versetzt. Später lebten sie in Santiago, Villa Alemana und anderen Orten. Im Ganzen mussten sie 13 Male umziehen. Nun ist Lisbeth Claussen und ihre Familie seit vielen Jahren in Santiago sesshaft, wo sie, wie sie meint, eine sehr gute Lebensqualität hat. Seit der goldenen Singkreis-Ära singt sie in Chören. Heute ist sie Mitglied des Divertimento-Chors, bei dem sie keine Probe verpasst.
Beim Bilanzziehen ist eine – vielleicht indiskrete – Frage unumgänglich: Würde sie nach all dem Erlebten wieder gegen den Willen der Eltern heiraten? Lisbeth Claussen überlegt konzentriert einen Moment und antwortet dann in resolutem Ton: «Ich glaube schon».