Nachwuchskünstler gaben den Ton an
Das Prestige der Semanas Musicales de Frutillar hat nicht nur in Chile zugenommen. Das kommt nicht von ungefähr, hat sich doch ihre vor zwei Jahren verstorbene Leiterin Flora Inostroza entschieden für eine internationale Vernetzung des Festivals eingesetzt. So kam etwa ein Abkommen mit dem mexikanischen Klavierwettbewerb José Jacinto Cuevas zustande, welches ermöglicht, den Sieger in Frutillar auftreten zu lassen.
Von Walter Krumbach
In diesem Jahr war es der russisch-mexikanische Künstler Wladimir Petrov, Gewinner des José Jacinto Cuevas und anderer renommierter Wettbewerbe, der sich dem Frutillarer Publikum stellte. Petrov legte ein vielseitiges Programm vor, mit dem er von Johann Sebastian Bach bis Sergei Rachmaninow einen Zeitbogen über drei Jahrhunderte spannte. Petrov verfügt über eine ausgefeilte Technik, die ihn mit bewundernswerter Entspanntheit an die großen Werke herangehen lässt. Ausdruck ist ihm erstes Gebot, und nicht einmal beim brisanten Rachmaninow verfällt er der Versuchung, den Steinway einmal krachen zu lassen. Sogar bei Franz Liszts Mephisto-Walzer erklangen die extrem wilden Ausbrüche nicht plakativ, sondern als Ausdrucksmittel der darzustellenden Handlung. Petrov ist ein allseitig begabter Künstler, von dem in Zukunft viel zu erwarten ist. Der Pianist beglückte das begeisterte Publikum mit mehreren Zugaben, darunter eine einfühlsame Consolation von Franz Liszt.
Ein außergewöhnliches, will heißen: anziehendes Programm stellten Annie Chalex Boyle (Violine) und David Palmer (Klavier) aus Texas vor. Die Geigerin begann ihren Vortrag mit der verteufelt schweren Sonate op. 27 Nr. 2 von Eugène Ysaÿe. Mit ihrem herausagenden technischen Können überwand sie bravourös die zahllosen Hürden der Partitur. Das Publikum folgte ihrem Vortrag auf der Stuhlkante sitzend – man hätte eine Nadel fallen hören können. In dieser hochkozentrierten Atmosphäre entglitt einem alten Herrn polternd der Spazierstock, was seine Nachbarn im Zuschauerraum sichtlich aufschreckte. Es folgte Arvo Pärts Fratres, ein Stück voller aufregend neuer Klangmöglichkeiten, dem das Duo beherzt ungewohnte Facetten abgewann. Ludwig van Beethovens Kreutzer-Sonate beendete quasi als Hauptstück das Mittagskonzert. Die Nordamerikaner konnten eine gründlich einstudierte Version vorzeigen, kernig und eloquent. Das abschließende Allegro wurde zum Höhepunkt der Darbietung, fein ziseliert und vollgriffig-sicher gestaltet.
Das Orquesta de Cámara de Chile unter David del Pino begab sich zu Beginn seines Konzerts in die Gefilde der Oper. Nach einem schwelgerisch-schmachtenden Intermezzo aus Giacomo Puccinis «Manon Lescaut» begleitete es die Sopranistin Alyson Rosales, Siegerin im letzten Dr.-Luis-Sigall-Wettbewerb. Die junge Sängerin hatte Stücke aus «I Capuletti e i Montecchi» von Vincenzo Bellini, «Rigoletto» von Giuseppe Verdi und «Gianni Schicchi» von Giacomo Puccini ausgesucht. Sie verfügt über einen anziehenden lyrischen Sopran, der problemlos Koloraturen singen kann. Die Stimme trägt, das ansprechende Timbre lädt ein, aufmerksam hinzuhören. Alyson Rosales legte ein ausgesprochenes Faible für Dramatik an den Tag, ihre Figuren rissen die Beteiligten mit. Ein großes Plus ihres Vortrags war ihre Geschmackssicherheit, welche ihrer Gestaltung besondere Überzeugngskraft verlieh. Eine Sänger-Darstellerin mit Zukunft, kein Zweifel. Nach der Pause spielte das Kammerensemble Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie Nr. 39 in Es-Dur, KV 543. Del Pino setzte auf Durchsichtigkeit und subtile Eleganz, was dem Werk vorbildlich bekam.
Der niederländische, in Köln ansässige Cembalist und Organist Léon Berben gab dank der Vermittlung des Goethe-Instituts ein Mittagskonzert. Er spielte auf einem Cembalo, welches das Kulturinstitut den Frutillarer Musikwochen als Dauerleihgabe zur Verfügung stellte. Auf dem Programm standen ausschließlich Barockmeister: Dieterich Buxtehude, Johann Jakob Froberger, Matthias Weckmann, Johann Caspar Kerll und Johann Sebastian Bach. Berben ist auf diesem Fachgebiet ein Kenner, der die Inhalte mithilfe seiner indiskutablen Begabung in Interpretationen des höchsten Niveaus umsetzte. Er legte ein beseeltes Spiel an den Tag und erreichte dabei eine Vielfalt von Klangmöglichkeiten voller feiner Farben. Seine superbe Technik ermöglichte ihm, ungeahnte Atmosphären zu kreieren. Kein schneller Lauf entglitt den behenden Fingern, mit sicherem Griff brachte er sie präzise zu Gehör. Talent und Fachkenntnis vergönnten ihm, einen stilistisch und spieltechnisch-souveränen Vortrag zu gestalten. (Siehe auch Interview auf Seite 16 dieser Ausgabe.)
Alyson Rosales gab zwei Tage nach ihrem ersten Auftritt ein zweites Konzert, diesmal mit der Pianistin Karina Glasinovic. Der Akzent lag auf dem Liedschaffen von über einem halben Dutzend Komponisten. Die Sängerin bewies erneut ihren ausgeprägten Sinn für Textinhalte, die sie treffend umzusetzen und in ihren Vortrag einzubauen weiß. Ihre deutsche Aussprache ist gründlich erarbeitet, obwohl einige Konsonanten prägnanter hätten kommen können. Ihre Heimat ist jedoch die italienische Oper, wie sie es nach der Pause erneut bestätigte. Gaetano Donizetti und Giacomo Puccini trug sie schwelgerisch und extrem tonschön vor. Einmalig, wie sie nach dem Spitzenton bei «Prendi, per me sei libero» («L’elisir d’amore», Donizetti) den folgenden Schlusston mit einem mitreißenden crescendo ausstattete. Karina Glasinovic begleitete empfindsam und versiert.
Am 31. Januar beehrten Staatspräsident Sebastián Piñera und Gattin mit ihrer Anwesenheit das Festival, um dem Konzert des Orquesta Sinfónica Nacional Juvenil de Chile beizuwohnen. Ihre Mitglieder sind maximal 25 Jahre alt, so auch der Konzertmeister Jarec Rivera, der den Solistenpart in Max Bruchs Violinkonzert in g-Moll op. 26 übernahm. Rivera hat einen weichen, samtenen Ansatz, seine pianissimi kamen hauchzart herüber, die kantablen lyrischen Stellen spielte er genussvoll aus. Beim energischen Schlusssatz ließ er sein jugendliches Feuer stürmisch aufglühen. Die Begleitung unter dem Dirigat von Maximiano Valdés war angemessen und korrekt, jedoch nicht besonders ereignisreich.
Den 2. Februar kürten die Musikwochen zum Tag der Barockmusik. Nicht weniger als drei Konzerte, in denen Werke dieser Epoche programmiert waren, gingen an diesem Samstag über Frutillars Bühnen. Der Chor der Universidad Católica Silva Henríquez und Instrumentalisten unter Fernando Cárdenas stellten sich während des Mittagskonzerts mutig den hohen Anforderungen von Johann Sebastian Bachs Kantate «Christ lag in Todesbanden» und Antonio Vivaldis «Gloria».
Das Abendkonzert oblag dem Kammerorchester der Universidad Austral Valdivia. Unter dem Leitsatz «Eine andere Vision des Barock» spielte das Ensemble Umarbeitungen von Ottorino Respighi und Maurice Ravel sowie die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Emmanuele Baldini dirigierte vom Konzertmeisterpult aus. Er erwirkte von seinen Mitstreitern einen passionierten, abgerundeten Vortrag. Sie legten einen wohltuend ausgefeilten Klang an den Tag, stilistisch untadelig und und homogen. Ein stimmiges Zusammenspiel.
Ausgefallenes Repertoire lateinamerikanischer Werke der Kolonialzeit
Das letzte Konzert des Tages begann um 22.30 Uhr (!). Das 2015 gegründete Ensemble Villanueva aus La Serena wartete mit lateinamerikanischen Werken der Kolonialzeit auf. Seine Leiterin Tatiana Espinoza hat sich zum Ziel gesetzt, dieses ausgefallene Repertoire zu erforschen und bekanntzugeben. Unermüdlich stöbert sie in Archiven, wie etwa dem der Katherdrale von Santiago de Chile, wo Unmengen von Schätzen lagern, die darauf warten, gehoben zu werden. Zur Aufführung kamen in Frutillar Stücke von den Italienern Roque Ceruti und Domenico Zipoli, die in Peru beziehungsweise in Argentinien wirkten, José de Campderrós, der von Spanien nach Chile übersiedelte und 1812 in Santiago starb und Antonio Ripa, ebenfalls ein Spanier, von dem Manuskripte im Santiaguiner Domarchiv auftauchten. Diese berückend schöne Musik unterscheidet sich mit ihrem unverkennbar lateinamerikanischen Kolorit unbedingt vom europäischen Barock. Die neun Musiker des Villanueva – vier Sänger und fünf Instrumentalisten – legten unkompliziert-spielfreudig los und rissen das Publikum mit ihrer glitzernden Sinnenfreude mit. Urkomisch etwa der Dialog von «A cantar un villancico» und ergreifend das mit himmlischen Harmonien ausgestattete «Hoy la tierra produce una rosa» (beide Kompositionen von Ceruti). Ein Konzert mit Seltenheitswert.
Dmitri Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 2 in F-Dur op. 102 (1957) ist ein vom Ballast der Stalin-Zensur befreites Werk. Schostakowitsch lebt sich darin unbeschwert aus. Die Melodien entstehen spontan, die Rhythmik ist spielerisch, flink und bekömmlich. Das Orquesta Sinfónica Nacional de Chile ließ es energiegeladen auftrumpfen, die präzise Zeichengebung Rodolfo Saglimbenis erwirkte prachtvolle Klangballungen. Luis Alberto Latorre am Flügel meisterte seinen Part gekonnt, wobei er die heiklen Dynamikschwankungen ebenso im Griff hatte wie die vertrackten schnellen Läufe oder die lyrischen Kantilenen des zweiten Satzes. An Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie in d-Moll op. 67 ging der venezolanische Dirigent völlig uneitel heran. Er war nicht im geringsten um Originalität oder gar Effekthascherei bemüht, was dem Werk im Endeffekt zugutekam. Beherzt und emotional hochgespannt gestaltete er das berühmte Eingangs-Allegro-con-brio. Im zweiten Satz ließ er die stimmigen Melodien vollmundig aussingen, sodass sie hell aufleuchteten. Sein uneitles Konzept hielt Saglimbeni bis zum Schluss durch, womit er eine Idealversion des gefeierten Stücks entstehen ließ. Es stimmte einfach alles: die Tempi, das Zusammenspiel, der hochkonzentrierte Tatendrang aller Beteiligten. Das tutti des Schlusssatzes steigerte er geschickt zu einem einzigartigen hymnischen Ausbruch. Der Saal tobte.
In den 1980er Jahren gründete der Cellist Roberto González die Gruppe Fammusic. Heute führen seine Kinder Lorena, Marcelo und Verónica das Quintett. In Frutillar stellten sie ein Franz-Schubert-Programm vor, dessen Mittelpunkt das Quintett in C-Dur D 956 war. Sie gestalteten es mit romantischer Emphase, wobei ihre ausgefeilte Technik als entscheidender Faktor wirkte. Ihr akkurat im Detail ausgearbeitetes Kammermusizieren ließ den Funken auf die andächtig lauschenden Zuhörer überspringen. Im Adagio offenbarte sich Schuberts Weltschmerz in all seiner Tragik. Im Kontrast dazu deuteten die fünf Streicher das darauffolgende Scherzo presto aufmunternd-positiv, um schließlich im letzten Satz, einem Allegretto, einen beredten Dialog zu entfalten.
Für den Schlussabend stand Joseph Haydns Oratorium «Die Schöpfung» als einziges Werk auf dem Programm. Chor und Orchester der Universidad de Chile hatten es unter der Leitung von Rodolfo Saglimbeni sorgfältig einstudiert. Erneut konnte das Publikum Saglimbenis Detailarbeit dankbar zur Kenntnis nehmen. Jede Nuance des großen Werks brachte er prägnant zum Ausdruck, vom anfänglichen Chaos, über das explosive crescendo bei «Und es ward Licht!» bis zu den jubelnden Chören wie «Die Himmel erzählen». Zudem rechnete er mit drei erfahrenen Solisten, Patricia Cifuentes als Gabriel und Eva, Felipe Catalán als Uriel und Patricio Sabaté als Raphael und Adam, die ihre anspruchsvollen Partien lebendig und kultiviert gestalteten. Der von Juan Pablo Villarroel vorbereitete Chor stellte nochmals sein hohes Niveau unter Beweis, das den hohen Ansprüchen der Komposition absolut gewachsen war. Ein rundum gelungener Abend, ein würdiger Abschluss der Musikwochen.