Buchtipp «Mein erfundenes Land» von Isabel Allende
Wie sind sie nun, die Chilenen? Treffend und humorvoll porträtierte Isabel Allende 2003 ihre Landsleute in dem Buch «Mein erfundenes Land».
Von Arne Dettmann
Die Chilenen sind ausgesprochen gastfreundlich und herzlich, akzeptieren allerdings keine andere Meinung und sind sogar intolerant. Sie sind regelversessen, konservativ und traditionalistisch und ziehen das bekannte Übel dem kennenzulernenden Guten vor, sind aber beständig auf der Jagd nach Neuem. Im 20. Jahrhundert haben sie alles getestet, vom Ultramarxismus bis hin zum Turbokapitalismus, immer in der Hoffnung, mit einem Regierungswechsel würde sich ihr Los ändern. Das sei irrational, und das wüssten die Chilenen auch. Das Leben in einem Erdbebenland ist eben nicht einfach, klagen gehört zum guten Ton, man erträgt das Schicksal stoisch und mit Fatalismus.
Isabel Allende blickte 2003 in ihrem Buch «Mein erfundenes Land» auf ihre Heimat zurück, das sie 1975 endgültig verlassen hatte, um zunächst im Exil in Venezuela und später den USA zu leben. Ihr Weltbestseller «Das Geisterhaus» 1982 spielt in Chile, wo die Schriftstellerin ihre Kindheit und Jugend verbrachte sowie als Journalistin arbeitete. Mit einer Mischung aus Heimweh und Missbilligung berichtet die Autorin über diesen langen Flecken Erde, dessen Einwohner so liebenswürdig und manchmal auch so unausstehlich sind.
In Chile ist die Luft voll von Testosteron
Als kaum zu ertragen bezeichnet die Frauenrechtlerin Allende den Machismus, den sie aus eigener leidlicher Erfahrung in Familie und Beruf erlebte. «Chile ist ein Land der Machos: Die Luft ist übersättigt von Testosteron, man muss ich wundern, dass den Frauen kein Bart sprießt.» Allende ist sich bei aller Kritik durchaus bewusst, dass die Mütter selbst Mitschuld tragen an der immer noch untergeordneten Stellung der Frau. «Sie erziehen ihre Töchter zu Dienerinnen und ihre Söhne zu Paschas.» Die Chileninnen würden zwar mit beiden Beinen im Arbeitsleben stehen und die tragende Säule der Familie darstellen. Doch verwechselten solche «Geishas» leider auch lieben mit dienen. Das Ergebnis seien verwöhnte, verhätschelte, unselbstständige Kinder und Männer.
Wer einmal länger in Chile gelebt hat, wird der Autorin eine scharfe Beobachtungsgabe zugstehen müssen. Die Schriftstellerin geht auf das berüchtigte «chaqueteo» der Neidhammel ein, die einfach nicht ertragen können, dass andere erfolgreich sind. Sie kritisiert die Heuchelei ihrer Landsleute und deren Vorliebe, unangenehme Dinge lieber unter den Teppich zu kehren. Und wer das wirkliche Temperament der Chilenen einmal kennen lernen wolle, dem empfiehlt sie eine Fahrt auf Santiagos Straßen. Selbst die hohe Fistelstimme beim Lästern («pelar»), die Verkleinerungsform beim «tecito» und «pancito» sowie das Verdrehen und Verschlucken von Konsonanten kennt sie aus dem Effeff: So wird aus einem «Cómo estás, pues?» das typisch chilenische «Com tai puh?»
Kafka war Chilene
Bürokratie und Regelungswut scheinen ebenfalls für Chile charakteristisch zu sein. Ein unüberschaubarer Verwaltungsapparat mit unzähligen Zertifikaten, vielen Stempeln und trägen Beamten würden ihrem «natürlichen Feind», dem Bürger, das Leben erschweren und möglichst viele Steine in den Weg legen. «Zu Zeiten der Berliner Mauer in den Osten zu reisen war einfacher. Kafka war Chilene.»
Und dann ist da natürlich noch der «maestro chasquilla», der Handwerker, der vorgibt, vom Waschbecken bis hin zur Flugzeugturbine alles reparieren zu können. Hinzu kommen die vielen selbst ernannten Ärzte – und das sind praktisch alle Chilenen –, die für alle Krankheiten und Wehwehchen medizinische Ratschläge und Mittelchen sofort parat haben. Doch den bitteren Ernst des Lebens kompensieren die Chilenen mit ihrem unverwechselbaren derben und zweideutigen Humor.
Trotz all der scharfen Worte gegen das Klassendenken in Chile, die sozialen Ungleichheit und das Macho-Gehabe beschreibt Allende die Marotten, Eigenarten und Komplexe ihrer Landsleute doch immer mit einer gehörigen Portion Wohlwollen und im versöhnlichen Stil. «Mich rührt das Gute, die spontane Vertrautheit, mit der wir uns begegnen, die herzlichen Küsschen zur Begrüßung, der schräge Humor, der mich immer zum Lachen bringt, die Freundschaft, die Hoffnung, die Schlichtheit, die Solidarität in Zeiten des Unglücks, das Mitgefühl, der unbezähmbare Mut der Mütter, der Langmut der armen Leute.»
Allende übertreibt gerne – sie gibt es selbst zu. Da seufzen die Vulkane, der Krake Santiago streckt seine Tentakel aus, beim Abriss eines alten Hauses ist ein Saurier aus Stahl am Werk und angesichts des Smogs über der Hauptstadt fallen Vögel schon mal tot vom Himmel. Gespenster spuken natürlich auch durch das Buch. Dennoch kann der Leser diese poetischen Ausschmückungen des magischen Realismus à la Gabriel García Márquez gut verdauen. Denn sie geben dem Werk Würze und Farbe.