«Das Leben ist ein Wettkampf»
Wenn am ersten Wochenende im Oktober im Nationalstadion die landesweiten Leichtathletik-Schulwettkämpfe über die Bühne gehen, wird Gerda Reichhard Barends (70) wieder als Schiedsrichterin beim Hochsprung dabei sein. Wie seit Jahrzehnten schon. Das Amt hält die pensionierte Sportlehrerin in Ehren. Sie hat es von ihrer Mutter Ilse Barends übernommen, der südamerikanischen Rekord-Hochspringerin.
Von Petra Wilken
Ilse Barends hatte 1946 den chilenischen Rekord im Hochsprung aufgestellt, den sie 26 Jahre lang hielt. 1948 hatte sie gute Chancen auf eine Medaille bei den Olympischen Spielen in London, denn sie lag auf Platz sechs der Weltrangliste. Aber sie konnte nicht antreten, weil just ihre Tochter Gerda geboren wurde.
Eigentlich wollte sie die Tochter auf den Namen Olimpia taufen, doch das konnte der Vater Enrique Reichhard verhindern. Dennoch kam Gerda mit viel sportlichem Talent zur Welt. Sie sollte 1960 den zweiten Platz bei den Jugend-Nationalwettkämpfen in 100-Meter-Brustschwimmen machen und war an der Deutschen Schule Santiago immer unter den Besten in den Leichtathletikdisziplinen Hochsprung und Hürdenlauf. Auch Boden- und Geräteturnen lagen ihr gut.
Bekannt wie ein bunter Hund
Doch obwohl ihre Mutter sie zeitweise auch persönlich im Hochsprung trainierte, wurde sie nie so gut wie sie. «Ich sollte so hoch und so gut wie sie. Ich war aber nicht wie meine Mutter. Sie war sehr schlank und größer als ich», erzählt Gerda Reichhard in einwandfreiem Deutsch im Gespräch mit dem Cóndor. Es ist ihr anzumerken, dass es als Kind nicht leicht für sie war, dem Wunsch ihrer Mutter nicht nachkommen zu können. Zudem wenn man eine Mutter hat, die berühmt war und «bekannt wie ein bunter Hund».
Aber die Deutsch-Chilenin hatte zwei hervorragende Turnlehrerinnen an der Schule: Magda Pape und Dorle Drewke. «In dieser Zeit war die Deutsche Schule landesweit führend in Leichtathletik. Walter Fritsch war der Trainer der Jungen. Auch er war ein sehr guter Lehrer», berichtet sie. Für sie steht und fällt der sportliche Erfolg der Schüler mit der Qualität ihrer Lehrer. «In meinem Fall kam dazu, dass ich aus einem Elternhaus stammte, in dem Sport großgeschrieben wurde», sagt sie. Ihr Vater praktizierte Fechten, Turnen und Tennis, letzteres noch im hohen Alter. Mit 85 Jahren machte er das Manquehue Sportabzeichen.
Sportpädagogik an der Universidad de Chile
Nach dem Schulabschluss studierte Gerda Reichhard Sportpädagogik an der Universidad de Chile. Das war zwischen 1966 und 1970, den letzten Jahren von Präsident Eduardo Frei Vater. «Wir hatten ewig Streik, manchmal zwei oder drei Monate lang.» Sie trainierte während dieser Zeit wie ihre Mutter am Club Atlético Santiago, die dorthin gewechselt war, als im Zweiten Weltkrieg der frühere Deutsche Sportverein aufgelöst worden war. Im Club Atlético hatte sie einen Trainer, der zudem an einer Schule arbeitete. Sie bat ihn, sie als Aushilfe mitzunehmen, um die Zeit zu nutzen und praktische Erfahrung zu sammeln.
So begann sie mit 19 Jahren an der Mädchenschule Villa María Academy, eine von US-amerikanischen Nonnen geführte katholische Privatschule in Las Condes. «Ich hatte Schülerinnen, die waren 18, ein Jahr jünger als ich. Da musste ich bestehen», erinnert sie sich. Sie bestand ausgezeichnet, blieb 41 Jahre an der Schule, arbeitete als Sport- und Klassenlehrerin, führte das Leichtathletik-Team, und die letzten 20 Jahre als Head of Disciplinarian, also Haupt-Inspektorin der Oberstufe.
Kaum trainierte sie die Leichtathletik-Mannschaft der Schule, wurde die Villa María Landessieger bei den Schulwettkämpfen. Sie trat gegen die Deutsche Schule Santiago an und gewann. «Obwohl Magda Pape die Niederlage einstecken musste, war sie stolz auf mich. Sie wusste, dass sie es gewesen war, die mir vieles beigebracht hatte», so Gerda Reichhard. Sie vermisse die Deutsche Schule seit langen Jahren auf den Spitzenplätzen in Leichtathletik. Nachdem Magda Pape aufgehört hatte, habe es die Deutsche Schule nie wieder geschafft, ihre frühere Position zu erreichen.
Gute Lehrer sind das A und O
Immer wieder betont sie, dass ein guter Lehrer das A und O für den sportlichen Erfolg der Schüler ist: «Dabei geht es um Disziplin. Aber nicht um eine Disziplin der Strafen oder Drohungen, sondern du musst motivieren, den Schülern sagen ‘du kannst!’. An der Villa María hatten wir ABC1-Schülerinnen. Sie gingen vor Wettkämpfen am Wochenende nicht zum Skifahren, sondern kamen zum Training. Wenn ein Lehrer motiviert, überzeugt und für seine Schüler da ist, gehen die Schüler für den Sport und jedes andere Fach durchs Feuer.»
Auch als Chefinspektorin setzte sie dieses Verständnis von Disziplin ein. «Es ging mir nicht darum, dass die Haare einwandfrei nach oben gekämmt waren oder die Krawatte gerade sitzt. Kein Kind ist rebellisch, weil es stören oder sich schlecht benehmen will. Es gibt Gründe. Ich habe die Schülerinnen dann beiseite genommen und mit ihnen gesprochen. Wenn sie gemerkt haben, dass sie Unterstützung erfuhren, hat sich viel verändert.»
«Sport war mein Leben», resümiert sie. Und fügt hinzu: «Das Leben ist ein Wettkampf. Es gibt immer Hindernisse, die man überspringen oder überlaufen muss. Sport ist dabei eine große Lehre.» In diesem Sinn hat sie auch ihre eigenen vier Kinder Jan, Sandra, Andrés und Matías erzogen – alle begeisterte Sportler. Auch ihr Mann Enrique Rusch Meissner, früherer Präsident vom Club Manquehue und der Deutschen Klinik, war sehr sportlich. Heute spielt er Golf. «Mein Vater sagte immer, Golf ist eine Krankheit.» Sie selbst spielt heute Tennis und geht zum Aquafitness.
Ganz in ihrem alten Element wird sie wieder sein, wenn sie Anfang Oktober drei Tage hintereinander die Hochsprünge der nationalen Schulwettkämpfe koordiniert. «Einer springt, einer tritt an. Das geht zack-zack.»