Geschichte der Psychologie – Teil 4
Carl Gustav Jung (1875-1961) galt als Kronprinz von Sigmund Freud. Doch Jung sah andere Kräfte als nur den Sexualtrieb in der Psyche walten. Er prägte die Begriffe vom Individuationsprozess, den Archetypen und dem Schatten in der Psyche. Er interessierte sich für fremde Kulturen und integrierte später auch orientalische Traditionen in sein vielschichtiges Werk.
Von Petra Wilken
Jung wurde in Kesswill in der Schweiz als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren. Spiritualität zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Er wuchs in seine eigene innere Welt gekehrt auf, las als Jugendlicher Nietzsche, Schopenhauer und Hegel, hatte aber Schwierigkeiten, sich in der realen Welt zu behaupten. Später sollte er die Konzepte introvertiert und extrovertiert prägen, zwei Grundformen der psychologischen Typen, die er beschrieben hat und die in der Psychologie als sein wichtigster Beitrag angesehen werden, zusammen mit seiner Definition der Komplexe.
Jung studierte Medizin in Basel und spezialisierte sich auf Psychiatrie. Nach dem Staatsexamen wurde er 1900 an der «Irrenanstalt Burghölzli» in Zürich als Assistent angestellt. Es war dasselbe Jahr, in dem Sigmund Freud sein Buch «Die Traumdeutung» veröffentlichte.
Während Freud nachgesagt wird, dass sein Modell mit dem schlechten Verhältnis zu seinem Vater und seinen eigenen unterdrückten sexuellen Impulsen zu tun hatte, musste sich Jung davor schützen, nicht für seine inneren Erfahrungen für verrückt erklärt zu werden.
Bilder des eigenen Innenlebens
Nach dem Bruch mit Freud zog er sich für längere Zeit aus dem öffentlichen Leben zurück und erforschte die Bilder seines eigenen Innenlebens. Über Jahrzehnte malte und zeichnete er archetypische Symbole und Gestalten in roteingebundene Kladden. Jung wollte nicht, dass seine Visionen bekannt wurden, weshalb sie erst 50 Jahre nach seinem Tod als das «Rote Buch» veröffentlicht wurden.
Jung teilte die Tiefen der Psyche in das persönliche und das kollektive Unbewusste ein. Nach Reisen nach Afrika und zu den Pueblo-Indianern in Neu-Mexiko verstärkte sich seine Ansicht, dass es universell gültige Ur-Bilder gibt, die in der Psyche der Menschen überall auf der Welt verankert sind. Er nannte sie Archetypen und verortete sie im kollektiven Unbewusstsein. Es ist für ihn sozusagen eine Lagerstätte des psychischen Erbes der Menschheitsgeschichte, die sich parallel zum Körper im Laufe der Evolution entwickelt hat.
Für eine gesunde psychische Entwicklung erschien es Jung wichtig, dass das bewusste, vernünftige Ich im Austausch mit dem Unbewusstsein steht, um im Laufe des Lebens zu einem vollständigen Ganzen zu werden, welches er das Selbst nannte. Bekannt geworden ist dieser Vorgang als Individuationsprozess. Für Jung war dies ein lebenslanger Weg, auf dem der Mensch durch Konflikte immer wieder gefordert wird, sich auch den unbewussten Inhalten der Psyche zu stellen.
Das Unbewusste in uns
Der Zugang zum Unbewussten ist allerdings nicht ganz einfach. Jung sah den Schlüssel in den Träumen, die ihre Mitteilungen in Symbolen überbringen. In diesem chaotischen, tiefen und dunklen Unbewussten siedelte er auch den Schatten der Psyche an. Er ist das Gegenstück der Maske oder auf Griechisch «Persona», mit der wir uns im Leben behaupten. Es sind die Rollen, die wir einnehmen, sei es im Beruf oder in der Familie. Für Jung waren diese Masken nicht negativ, sondern notwendig. Er sah lediglich ein Problem, wenn sich seine Patienten mit ihrer Maske identifizierten und nicht verstanden, dass sie viel mehr als nur diese waren.
Im Schatten verortete Jung all die negativen Eigenschaften, die wir nicht wahrhaben wollen, seien es Neid oder Faulheit. Es können aber auch Talente oder Neigungen sein, die als gesellschaftlich unangemessen gelten. Der Schatten taucht in Träumen auf oder aber kann durch Übertragung wahrgenommen werden: Das, was uns an anderen stört, könnte ein Signal unseres eigenen Schattens sein, meinte der Schweizer Psychiater. Wichtig im Prozess der Individuation sei es, sich Inhalte des Schattens bewusst zu machen. Wenn nicht, so die Jungianer, könne er sich durch Leid und Krankheit ausdrücken, sei es psychisch oder körperlich.
Psychiaterin Lola Hoffmann in Chile
In Chile ist die Schule von C.G. Jung durch die Psychiaterin Lola Hoffmann (1904-1988) bekannt geworden. Helena Jacoby de Hoffmann wurde in Riga, Lettland, als Tochter einer deutschsprachigen Familie geboren, die 1919 nach Freiburg im Süden Deutschlands übersiedelte. In der Zeit der bedeutenden Philosophen Martin Heidegger und Edmund Husserl studierte sie Medizin in Freiburg.
Bei ihrer Arbeit als Physiologin in Berlin lernte sie den deutschstämmigen chilenischen Arzt Franz Hoffmann kennen und ging 1931 mit ihm nach Chile. Mit 46 Jahren beschloss sie, nie wieder ein Tier zu sezieren und ging nach Tübingen und Zürich, um Psychiatrie zu studieren.
In den 1960er Jahren, der Zeit des Pazifismus und der Frauenbewegungen, begann sie als Therapeutin in Santiago zu arbeiten. Ihre neuartige Methode der Traumdeutung fand viele Anhänger. Gerade auch Männer gehörten zu ihren Patienten. Nach den Konzepten Jungs brachte sie ihnen bei, dass in ihrem tiefen Innern ein weiblicher Anteil schlummert, der darauf wartet, integriert zu werden.
Die «Anima» als weiblicher Seelenanteil und der «Animus» als männlicher in der Frau gehören zu den Archetypen, die Jung beschrieben hatte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschien es gemeinhin noch undenkbar, dass auch Männer einen liebevollen Teil in sich tragen, während Frauen über einen logisch-denkenden und teils auch aggressiven Wesenszug verfügen, der gemeinhin den Männern zugeschrieben wird.
Lesen Sie im letzten Teil dieser Cóndor-Serie, wie heute die Hirnforschung die Psychologie zu revolutionieren scheint und sogar Träume decodifiziert.
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