Die Unterdrückung der Gefühle
In seinem Roman «El peso de la noche» zeigte Jorge Edwards 1965 seine Vision von der chilenischen Bourgeoisie auf: nach außen hin ordnungsliebend den Status quo sichernd, innerlich an Dekadenz und Gefühlslosigkeit zerbröckelnd.
Von Arne Dettmann
«El orden social se mantiene en Chile por el peso de la noche», schrieb Diego Portales im Juli 1832. Der damalige chilenische Innenminister schuf die stark zentralistische Verfassung des Landes und galt als eine sehr konservative Persönlichkeit mit ausgeprägten Führungsqualitäten. Was der Politiker mit der «Schwere der Nacht» meinte, die die «soziale Ordnung» garantiere, erläuterte er in einem Nebensatz: Chile besäße keine feinsinnigen, geschickten Männer. Die große Volksmasse tendiere eher zum ruhigen Verhalten. Auf die heutige Zeit übersetzt würde man wohl sagen: Nach Feierabend werden keine Revolutionen gegen die Staatsautorität angezettelt, sondern man entspannt sich zu Hause.
Dunkel und finster wie die Nacht, dazu bedrückend und schwer geht es auch im gleichnamigen Buch von Jorge Edwards zu, das 1965 zuerst in Barcelona erschien. Bleigrau lastet der Himmel von Santiago de Chile über den Protagonisten Joaquín und Francisco, die beide auf ihre Art versuchen, den rigiden, reaktionären Konventionen ihrer Gesellschaftsschicht zu entkommen.
Doch während der pubertierende Joaquín gerade Sexualität und Literatur für sich entdeckt, begibt sich sein Onkel Francisco in die Ausschweifungen der Nacht. Alkoholgenuss, Pferdewetten sowie Aktienspekulationen werden zum Fluchtweg aus einer reichen, bürgerlichen Familie, die allerdings jede Normabweichung mit Ausschluss sanktioniert. Das schwarze Schaf zerbricht letztendlich an seinen Schulden und kehrt reumütig in den Schoß der Familie zurück. Die ursprüngliche soziale Ordnung im Sinne von Diego Portales ist wiederhergestellt.
Existenzialistische Frage nach dem authentischen Leben
Der chilenische Schriftsteller Carlos Franz bezeichnete «El Peso de la noche» einmal als «universal» und zwar nicht nur im Hinblick auf die stilistische Brillanz Edwards. Die existenzialistische Frage, wie der Mensch ein authentisches Leben führen soll angesichts einer absurden Welt, würde im Duplex Joaquín-Francisco erörtert. Der Mittdreißiger Joaquín verliert sich dabei im Glauben an eine ausgleichende Gerechtigkeit. Er wartet – ergebnislos – darauf, dass ein kosmisches Gleichgewicht seine Pechsträhne irgendwann beenden wird.
Francisco dagegen erliegt keiner fatalistischen Schicksalsergebenheit und hinterfragt immer mehr die alte Ordnung. In der Jesuitenschule hält Pater Fernández im Unterricht warnend ein Foto von Nietzsche hoch. Dessen Ablehnung Gottes und Überheblichkeit seien eine Krankheit, für jeden sichtbar in der Visage des verrückten Philosophen. Den spanischen Schriftsteller Miguel de Unamuno wiederum bezeichnet der Geistliche als einen Skeptiker mit «unheilvollen Einfluss». Aber zu spät – längst hat Francisco begonnen, solche Häretiker heimlich zu lesen. Und er gerät immer mehr ins Zweifeln: Wenn es vielleicht gar keinen Gott gibt? Oder nur einen gleichgültigen Gott? Wie kann der Mensch dann wissen, was gut und böse ist?
Jorge Edwards wurde von den Jesuiten im Colegio San Ignacio erzogen und war zudem Schüler von Padre Alberto Hurtado. Der Autor räumte später ein, dass ihm der von der katholischen Kirche Heiliggesprochene als Vorbild für Pater Fernández im Buch diente. Im Jahr 2012 erklärte Edwards, dass er als 11-Jähriger in der Schule von einem Priester sexuell missbraucht worden sei.
Grenzüberschreitungen beim Fluss Mapocho
Schließlich befreit sich Francisco von Skrupeln und seinem schlechten Gewissen und wagt eine unerlaubte Grenzüberschreitung – hier symbolisch dargestellt in der Überquerung des Mapocho-Flusses. Von den wohlhabenden Vierteln aus kommend gelangt er über eine Brücke in ärmere Stadtteile. Der Besuch bei einer Prostituierten ist zwar mit Risiko behaftet, bietet aber dafür eine sinnliche Erfahrung und menschliche Nähe – im Gegensatz zur sterilen Welt auf der anderen Seite des Ufers mit ihrer Gefühlskälte und Distanziertheit.
Den Begriff der Unterdrückung im weitesten Sinne erlebte Jorge Edwards selbst als Diplomat. Der 1931 in Santiago geborene Chilene studierte Jura und Philosophie an der Universidad de Chile sowie in Princeton und vertrat dann sein Land in Paris, Lima und Havanna. Aufgrund seiner Kontakte zu Dissidenten musste Edwards auf Anordnung Fidel Castros das Land nach nur drei Monaten verlassen. Seine Erfahrungen schrieb er in dem bekannten Buch «Persona non grata» (1974) nieder, das international für Furore sorgte. Denn in dem Werk übte erstmals ein lateinamerikanischer Intellektueller linker Couleur scharfe Kritik an der kommunistischen Diktatur.
Edwards wurde 2010 von Staatspräsident Sebastián Piñera zum Botschafter in Frankreich ernannt. Für sein literarisches Werk erhielt er 1994 den chilenischen Nationalpreis und 1999 den «Premio Cervantes», die bedeutendste Auszeichnung in der spanischsprachigen Welt.