Eine vergleichsweise geringe Mordrate, doch eine hohe Zahl an Diebstählen und Einbrüchen
Zwei Einbrüche mit Todesfolge praktisch innerhalb einer Woche: Zwei schwere Straftaten haben in Chile nicht nur Entsetzen ausgelöst, sondern auch eine Diskussion über Kriminalitätsbekämpfung entfacht.
Von Arne Dettmann
Brennende Kerzen stehen vor dem Haus, in dem Montagnacht vergangener Woche ein Einbrecher auf eine 63-jähirge Bewohnerin einstach und sein Opfer tödlich verletzte. Auch der Ehemann und Sohn erlitten Stichverletzungen. In dem bürgerlichen Stadtteil La Reina von Santiago de Chile haben die Nachbarn mit Trauer und Bestürzung auf die brutale Tat reagiert. Aber es macht sich auch Wut breit. An vielen Hauseingängen fordern die Bürger auf Schildern mehr Sicherheit: «Kein Toter mehr!» ist zu lesen. «Wir bestehen auf unser Recht, in Frieden zu leben.»
Die Entrüstung kommt nicht von ungefähr. Erst eine Woche zuvor war ein 28-jähriger Chilene im Stadtteil Lo Barnechea im Haus seiner Eltern erschossen worden, nachdem er Einbrecher mit einer Platzpatronen-Pistole abschrecken hatte wollen. Und ebenfalls in La Reina erlag im Januar ein 77-Jähriger den Folgen eines Überfalls in seinem Haus.
Volle Härte des Gesetzes
Angesichts der jüngsten Vorfälle forderte Chiles Innenminister Andrés Chadwick die volle Härte des Gesetzes für einen 18-Jährigen, der im Mordfall der 63-Jährigen festgenommen wurde. Pikantes Detail: Der mutmaßliche Täter Ariel M. weist 21 Vorstrafen auf, darunter Diebstähle, Einbrüche und Gewaltanwendungen. Den Vorwurf einer zu laschen Strafverfolgung entgegnete der zuständige Staatsanwalt Manuel Guerra. «Wir sind mit der Situation nicht überfordert.» Die beiden Tötungsdelikte in La Reina und Lo Barnechea würden Ausnahmen darstellen. In den besagten Stadtteilen habe die Zahl der Diebstähle sogar abgenommen.
Tatsächlich ist die Mordrate in Chile – angegeben als vorsätzliche Tötungsdelikte je 100.000 Einwohner – in den vergangenen zehn Jahren praktisch konstant geblieben. Im Jahr 2003 waren es laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung 3,3 Morde auf 100.000 Einwohner. Die Rate ging dann mal auf 3,7 hoch, im Jahr 2012 aber auch auf 2,5 herunter. Die aktuellste Angabe, die derzeit zur Verfügung steht, bezieht sich auf das Jahr 2014: Damals lag die Mordrate bei 3,6.
Mordrate im internationalen Vergleich
Ist das viel oder wenig? Verglichen im gesamtamerikanischen Kontext handelt es sich um eine der niedrigsten Mordraten überhaupt. In den USA, wo alleine im vergangenen Jahr 15.620 Menschen durch Schusswaffen getötet wurden, lag die Mordrate 2015 bei 4,9 je 100.000 Einwohner. Peru kam statistisch gesehen auf 7,2, Uruguay auf 8,4 und Argentinien auf 6,5.
In anderen Ländern liegen die Zahlen deutlich höher: Costa Rica kommt bereits auf eine Mordrate von 12, in Mexiko und Brasilien sind es 16,4 beziehungsweise 26,8, wobei die Statistik hier keine Tötungsdelikte berücksichtigt, die im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten verübt werden, zum Beispiel durch paramilitärische Einheiten. Im Krisenstaat Venezuela beläuft sich die Mordrate auf 57,2. Schlusslichter bilden die mittelamerikanischen Staaten Honduras mit 63,8 und El Salvador mit 108,6 Morden je 100.000 Einwohner.
Einzig und allein Kanada mit einer Mordrate von 1,7 liegt noch vor Chile und gilt damit statistisch gesehen als das Land mit den wenigsten Tötungsdelikten auf dem amerikanischen Kontinent. Zum Vergleich: Deutschland kommt auf eine Mordrate von knapp 0,9 und Frankreich sowie Finnland auf 1,6.
Kann Chile also trotz der aktuellen Raubüberfälle doch noch als ein Hort des Friedens bezeichnet werden?
Hohe Zahl an Diebstählen und Einbrüchen
Leider nicht ganz. Denn laut der UNO zeigt Chile in Amerika – nach Argentinien – die zweithöchste Rate an Diebstählen mit Gewaltanwendung auf. Die Zahl betrug 2015 hierzulande 593 je 100.000 Einwohner, während sie in Peru bei 264 und Kolumbien bei 210 lag. Auch bei Einbrüchen weist Chile mit 663 pro 100.000 Einwohner eine vergleichsweise hohe Rate auf.
Diese Zahlen spiegeln sich auch deutlich in einem Index wider, den die chilenische Stiftung Paz Ciudadana gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut GfK Adimark erstellt. Der besagte Índice Paz Ciudadana misst die Kriminalitätsrate in 52 chilenischen Städten, berücksichtig die Anzahl der Opfer sowie der Strafanzeigen und fragt nach subjektiver Gefährdung und der Einschätzung gegenüber der Arbeit von Polizei und Staat. Demnach gaben im September 2017 fast 40 Prozent aller Befragten an, sie selbst oder ein Mitbewohner seien in den vergangenen sechs Monaten mindestens einmal Opfer eines Diebstahls oder versuchten Diebstahls gewesen.
Während das Vertrauen in Polizei, Kriminalpolizei sowie Richter, Staatsanwälte und Regierungen von 2000 bis 2017 im Index leicht abgenommen hat, sind Ängste und damit das Sicherheitsbedürfnis der Bürger angestiegen. Innerhalb Lateinamerikas und der Karibik ist Chile das Land mit den höchsten Aufwendungen in puncto Gefahrenabwehr. Laut einer Studie der inneramerikanischen Entwicklungsbank investiert Chile 3,9 Milliarden US-Dollar jährlich in Elektrozäune, Überwachungskameras und Wachpersonal. Ein wesentlicher Teil von den Aufwendungen wird von privaten Haushalten und Unternehmen geleistet. Insgesamt entspricht die Summe in etwa 2,42 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Das Konzept «selbst stark aufrüsten» und bei Kriminellen mit «strenger Hand hart durchgreifen» scheint allerdings keine nachhaltige Lösung darzustellen oder darf zumindest angezweifelt werden. Chile ist statistisch gesehen mit 266 Gefängnisinsassen pro 100.000 Einwohner nach den USA das Land in Amerika mit den meisten Straftätern, die hinter Gittern sitzen – doch die Kriminalität ist damit auch nicht heruntergegangen.
Überfüllte Gefängnisse
Die Hälfte aller 84 Gefängnisse im Land gelten als überfüllt, einige darunter zu 240 oder gar 279 Prozent. Und sie scheinen offenbar eine Brutstätte für weitere Delikte zu sein: Nach Schätzungen werden 50 Prozent aller Sträflinge nach ihrer Freilassung zu Wiederholungstätern. Die Stiftung Paz Ciudadana fordert entsprechend Programme zur Resozialisierung von Straftätern stärker und effizienter auszubauen.
Und der Staat müsste bereits bei den ganz jungen Menschen ansetzen. Als «traurig und manchmal dramatisch» bezeichnete Chiles Staatspräsident Sebastián Piñera vergangene Woche den Bericht über das Jugendamt Sename (Servicio Nacional de Menores). Mehr als 36 Prozent der Minderjährigen, die sich dort in staatlicher Obhut befinden, besuchen nicht regelmäßig die Schule. Knapp 42 Prozent weisen Alkohol- und Drogenprobleme auf.
Der Weg dieser Jugendlichen scheint vorgezeichnet: Etwa die Hälfte aller Gefängnisinsassen in Chile hatte zuvor als Kind oder Jugendlicher eine Sename-Einrichtung durchlaufen, so die Stiftung Fundación San Carlos de Maipo. Die Hälfte aller Verurteilten, die im Jugendstrafvollzug waren, wurde innerhalb von 24 Monaten wieder straffällig.
Der angeklagte Ariel M. im Mordfall von La Reina ist aus diesem Teufelskreislauf nicht mehr herausgekommen. Ihn dürfte nun eine lebenslange Strafe erwarten.